Der Armee geht das Personal aus

Am 21. Februar 2022 vermeldete die Gruppe Verteidigung für das Jahr 2021 eine weiterhin hohe Tauglichkeit von 81% der Stellungspflichtigen sowie einen Rekord bei der Rekrutierung von Frauen für die Armee. Der wie üblich durchwegs positiv formulierte Bericht präsentiert der Leserschaft allerdings nur die glänzende Seite der Medaille. Bei genauer Betrachtung der Zahlen sowie deren Entwicklung ist schnell festzustellen, dass die Bestände der Armee weiterhin ungebremst aus dem Ruder laufen.
Im Jahr 2021 konnten von den total 31’246 abschliessend beurteilten stellungspflichtigen Männern 22’643 (72.5%) der Armee und 2’665 (8.5%) dem Zivilschutz zugeteilt werden. 5’938 (19%) waren weder für die Armee noch für den Zivilschutz tauglich.
Für die Armee resultierten per Jahresende 2021 also 22’643 neue dienstpflichtige Männer. Ergänzt wurden diese von 546 Frauen, die sich freiwillig in die Armee einteilen liessen. Diese «Basiszahlen 2021» würden gemäss Hochrechnung ausreichen, um den berechneten jährlichen Nachwuchsbedarf im Zusammenhang mit dem Soll-Bestand der Armee von 100’000 Armeeangehörigen sicherzustellen. Die Alimentierungsprobleme beginnen allerdings erst nach der Rekrutierung, respektive erst ab dem Moment, wo der Stellungspflichtige den Status «militärdiensttauglich» erreicht hat und somit «militärdienstpflichtig» ist.
Der fatale politische Fehlentscheid im Jahr 2009
Per 1. April 2009 hat der Bundesrat beschlossen, die «Tatbeweislösung», welche den Zugang zum Zivildienst vereinfacht, in Kraft zu setzen. Im Rahmen dieser Änderung des Zivildienstgesetzes wurde die aus hundert Mitgliedern bestehende Zulassungskommission des Zivildienstes aufgelöst.
Betreffend die «Tatbeweislösung» ging der Bundesrat von einer kapitalen Falschannahme aus: «Die Bereitschaft, einen Zivildienst zu leisten, der deutlich länger dauert als der zu leistende Militärdienst, gilt als ausreichender Nachweis dafür, dass ein Gewissenskonflikt mit der Leistung des Militärdienstes vorliegt. Dabei soll der Zivildienst weiterhin 1,5-mal so lange dauern wie der Militärdienst. Der Tatbeweis bringt mithin keine freie Wahl zwischen Militär- und Zivildienst und letzterer ist weiterhin nur eine Lösung für Personen mit Gewissensgründen.»
Während im Jahr 2008 1’632 militärdienstpflichtige Männer zum Zivildienst zugelassen wurden, waren es 2009, im ersten Jahr der «Tatbeweislösung», 6’720 Zulassungen. Diese Vervierfachung innerhalb eines Jahres führt zur Erkenntnis, dass seither sehr wohl eine faktische «Wahlfreiheit» besteht.
Militärdiensttauglichkeit bedeutet Wahlfreiheit
Nur wer an der Rekrutierung den Status «Militärdiensttauglich» erreicht, hat das Anrecht, sich in den Zivildienst umteilen zu lassen. Zivilschutz-Taugliche oder -Untaugliche haben diese Möglichkeit von Gesetzes wegen nicht. Seit 2009 führt das dazu, dass die jährlich gemeldeten Zahlen betreffend Militärdiensttauglichkeit völlig wertlos sind.
In den Jahren 2009 bis 2021 sind durchschnittlich rund 5’924 militärdiensttaugliche Männer in den Zivildienst zugelassen worden. Das entspricht einem Total von 77’020 Zulassungen in dreizehn Jahren. Lediglich 17’332 Zulassungen in den Zivildienst fanden in den dreizehn Jahren vor der Gesetzesänderung statt. Der politische Fehlentscheid von 2009 kostete die Armee bis heute also rund sechzigtausend Soldaten.
Von Berufs wegen musste ich einmal an einem «Orientierungstag-Zivildienst» teilnehmen. An diesem obligatorischen Tag müssen alle teilnehmen, die eine Umteilung in den Zivildienst in Betracht ziehen. Am Anfang des Tages wurden die rund zwanzig militärdiensttauglichen Männer im Plenum gefragt, warum sie sich in den Zivildienst umteilen lassen wollen. Zwei von Ihnen machten einen mehr oder weniger glaubhaften «Gewissensgrund» geltend. Alle anderen achtzehn Männer hatten schlicht «keine Lust» oder sahen «keinen Sinn» an einer Dienstleistung in der Armee. So viel zum Thema «keine freie Wahl zwischen Militär- und Zivildienst».
Die Auswirkungen in den Wiederholungskursen
Obwohl im Zuge der Reduzierung des Armeebestandes von 400’000 (1995, Armee 95), über 200’000 (2014, Armee XXI) auf heute 140’000 (seit 2018, WEA) ein Teil der sechzigtausend zusätzlichen Zulassungen in den Zivildienst «natürlich» kompensiert werden konnten, mussten im Jahr 2019 58% der Truppenkörper ihren Wiederholungskurs mit einem effektiven Personalbestand von unter 80% absolvieren. Weitere 35% der Truppenkörper mussten mit 80 bis 100% ihres Personals auskommen und lediglich 7% der Truppenkörper hatten Vollbestand in der entsprechenden Dienstleistung.
Die Armee-Auszählung vom Oktober 2020 hält fest, dass inzwischen nur noch 37% der Stellungspflichtigen ihre Militärdienstpflicht vollständig erfüllen. Die restlichen 63% scheiden ab der Rekrutierung, vor oder während der Rekrutenschule oder zu einem späteren Zeitpunkt aus der Armee aus. Dabei verliert die Armee rund alle vier Jahre, in reinen Zahlen ausgedrückt, einen kompletten Nachwuchs-Jahresbedarf an den Zivildienst. In den Jahren 2019 bis 2021 waren dies in der Summe gar mehr als die Anzahl aller Untauglichen.
Zwei neue Dienstpflicht-Modelle
Die inzwischen erkannte dramatische Ausgangslage betreffend der personellen Alimentierung der Armee hat dazu geführt, dass das schweizerische Dienstpflichtsystem als Gesamtes überdenkt wird. Gemäss Medienmitteilung vom 4. März 2022 hat der Bundesrat entschieden, dass zwei neue «Dienstpflicht-Modelle» vertieft überprüft werden sollen. Es sind dies:
- Die «Sicherheitsdienstpflicht» sieht eine Zusammenlegung des Zivildienstes und des Zivilschutzes in einer neuen Organisation vor. Dadurch wird die personelle Alimentierung des Zivilschutzes sichergestellt. Da die Armee bei der Rekrutierung Vorrang hat, sollte diese Variante auch eine ausreichende Alimentierung der Armee ermöglichen.
- Die «bedarfsorientierte Dienstpflicht» dehnt die Dienstpflicht auf Frauen aus. Es werden aber nur so viele Personen rekrutiert, wie Armee und Zivilschutz benötigen, nämlich rund die Hälfte aller weiblichen und männlichen Stellungspflichtigen. Damit kann die Alimentierung von Armee und Zivilschutz sichergestellt werden, weil der Rekrutierungspool verdoppelt wird.
Die «Sicherheitsdienstpflicht» entspricht praktisch dem Status Quo. Die Zusammenlegung von Zivildienst und Zivilschutz hat keine Auswirkungen bezüglich einer steigenden personellen Alimentierung der Armee. Nur wenn dabei der Rekrutierungsprozess angepasst, respektive gleichzeitig die Anforderungs-Limiten der Armee nach unten korrigiert würden, sowie nach erfolgter Zuteilung in die Armee keine Möglichkeit mehr zur Umteilung in den Zivildienst bestünde, könnte dieses Modell die Bestände der Armee stabilisieren. Die vage «Sollte-Formulierung» betreffend ausreichender Alimentierung der Armee lässt allerdings bereits erkennen, dass selbst der Bundesrat nicht wirklich von diesem Modell überzeugt zu sein scheint.
Die «bedarfsorientierte Dienstpflicht» scheint auf den ersten Blick funktionieren zu können. Es stellt sich allerdings die Frage, nach welchen Kriterien die Stellungspflichtigen Männer und Frauen zur Rekrutierung aufgeboten werden oder nicht. Wird das Los entscheiden, oder wird nach alphabetischer Reihenfolge aufgeboten, bis der Bedarf gedeckt ist? Dieses Modell wird betreffend «Gleichbehandlung» oder aber auch «Chancengleichheit» sehr anfällig sein. Zusätzlich ist von einem Anstieg der Bürokratie im Vorfeld der Rekrutierung auszugehen.
Keine weiteren politischen Fehlentscheidungen
Das Überleben der schweizerischen Milizarmee, wie wir sie heute kennen, hängt von den politischen Entscheidungen der kommenden Jahre ab. Dies gilt insbesondere für die Bereiche Alimentierung, Budget und Beschaffung. Unbedachte und neuerliche politische Fehlentscheidungen würden das definitive Ende unserer Milizarmee bedeuten.
Solange die Mehrheit der Schweizer Stimmbevölkerung eine Milizarmee will, hat die Politik die entsprechenden Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Dazu gehören ein klares und unverhandelbares Dienstpflichtmodell sowie die zur Auftragserfüllung notwendigen Finanzen.
Eine sogenannte «Annäherung» oder gar eine «Mitgliedschaft» in einem internationalen Verteidigungsbündnis ist keine Variante. In Krisenzeiten muss die Schweiz in der Lage sein, sich selbst verteidigen zu können.
Anmerkung: Sämtliche in diesem Artikel genannten Zahlen sind im Internet auf den Seiten des VBS und des Bundesamtes für Zivildienst abrufbar.