Der Euro: Noch gibt es ihn

Ein Euro kostet heute rund 95 Rappen. Vor einem Jahr waren es noch 1,10 Franken. Der Franken galt damals als überbewertet, der Euro somit als unterbewertet. Und jetzt, ist der Euro noch mehr unterbewertet? Und warum?
Der Euro ist das gemeinsame Geld von rund 337 Millionen Menschen in 19 Ländern. Er dient diesen Menschen als Zahlungsmittel, als Mittel der Wertaufbewahrung und als Recheneinheit, mit der sie die Preise von Waren und Dienstleistungen ausdrücken. Eine Einheitswährung hat in einem gemeinsamen Binnenmarkt enorme Vorteile gegenüber einer Mehrzahl verschiedener Währungen. Allerdings nur, wenn Regeln eingehalten werden.
Die Regeln der EU
Das wussten auch die Schöpfer des Euro. Sie definierten 1999 strenge und klare Regeln. Das deklarierte Ziel war die Ergänzung des Binnenmarktes durch eine gemeinsame Währung mit hoher Preisstabilität.
Um an der gemeinsamen Währung teilnehmen zu können, mussten die Mitgliedstaaten eine Reihe von Konvergenzkriterien einhalten. Ein zentraler Punkt betrifft die Staatsverschuldung: Der staatliche Schuldenstand darf nicht mehr als 60 Prozent, die jährliche Nettoneuverschuldung nicht mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen.
Die Regeln der EZB
Auch die Europäische Zentralbank EZB, welche für den Betrieb der Währungsunion geschaffen wurde, hat strikte Regeln, welche das Ziel der Währungsunion sicherstellen sollen. Im Vertrag von Lissabon steht in Artikel 123 der sperrige Satz: «Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten bei der Europäischen Zentralbank oder den Zentralbanken der Mitgliedstaaten […] für Organe […] Union, Zentralregierungen, […] sind ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln von diesen durch die Europäische Zentralbank oder die nationalen Zentralbanken.» Das tönt etwas kompliziert, ist aber effektiv ganz einfach: Keine Staatsfinanzierung durch die Notenbanken.
Der missbrauchte Euro
Milton Friedman, der grosse amerikanische Nationalökonom und Geldtheoretiker sagte voraus, der Euro würde kaum länger als bis 2015 überleben. Im Zeitpunkt hat er sich getäuscht. Noch gibt es ihn.
Der Euro hat bis heute überlebt, weil alle Akteure alle Regeln von EU und EZB dauernd missachten und verletzen. Anstelle der Vorgabe von maximal 60 Prozent beträgt die griechische Staatsverschuldung 190 Prozent, gefolgt von Italien mit 150 Prozent, Portugal, Spanien und Frankreich. Man nennt die Gruppe auch «Club Med». Die ganze Eurozone überschreitet die Vorgabe um mehr als die Hälfte (95 Prozent).
Die EZB hat trotz Kreditfinanzierungsverbot in den vergangenen Jahren Staatsanleihen ihrer Mitgliedsländer im Betrag von über vier Billionen (4’000’000’000’000) Euro erworben. Teilweise hat sie damit das gesamte Staatsdefizit einzelner Länder gedeckt. Das ist doch alles schon etwas speziell.
Die Missetäter Merkel, Draghi, Lagarde
Den politischen Startschuss zum grossflächigen Missbrauch des Euro machte 2010 mit Bundeskanzlerin Angela Merkel ausgerechnet die Vertreterin von Deutschland, zu dessen Schutz viele dieser Regeln erlassen wurden. In einer Regierungserklärung im Bundestag sagte sie: «Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.» Ihre Meinung bezeichnete sie wie üblich als «alternativlos».
Der nächste Missetäter war der EZB-Präsident Mario Draghi, der im Juli 2012 in London den berühmten Satz sagte: «Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the Euro». Immerhin machte Draghi transparent, dass er von seiner eigenen Vorstellung der EU ausging, die nicht der geltenden politischen Ordnung entsprach und entspricht. Er beschrieb eine EU, die sich auf vier Bausteine stützt: «eine Fiskalunion, eine Finanzunion, eine Wirtschaftsunion und eine politische Union». Das sind für einige EU-Länder auch heute noch geradezu Schimpfwörter. Auf jeden Fall besteht dafür in der EU kein politischer Konsens.
Die dritte Akteurin im Missbrauchsfall Euro ist Draghis Nachfolgerin im EZB-Präsidium, Christine Lagarde. Mit Frau Lagarde wurde keine Ökonomin an die Spitze der EZB gewählt, sondern eine Politikerin. Das war Absicht. Und Lagarde stammt aus dem «Club Med». Eine Geldpolitikerin hätte vielleicht nicht nach der Geige der Politik getanzt. Was resultiert als Folge? Der Eurokurs stürzt in neue Tiefen ab, der Euroraum in eine hohe Inflation; bereits beträgt sie rund neun Prozent.
Das schöne Gespenst der Inflation
Es gibt ein Medikament gegen die Inflation: Höhere Zinsen. Es wäre für die Währungsunion höchste Zeit, die geldpolitischen Zügel zu straffen, die Zinsen zu erhöhen, und zwar kräftig und mit einer langfristigen Perspektive. Diese müssten die Erwartungshaltung und das Verhalten des Staates, der Firmen und der Bevölkerung verändern. Es besteht dabei das Risiko, dass die Wirtschaft in eine Rezession gleitet. Teilweise ist diese jedoch bereits im Gange. In den USA, die sich in einer ähnlichen Lage finden, hat die Zentralbank eine solche Politik glaubwürdig eingeläutet.
Die EZB dagegen zögert, und dies aus verständlichen Gründen: Die hochverschuldeten Länder können höhere Zinsen gar nicht bezahlen, und eine hohe Inflation reduziert die reale Schuldenlast dieser Staaten. Das geht ganz einfach. Inflation braucht keine politische oder gar demokratische Legitimation. Sie «passiert einfach».
Alles für den «Club Med»
Die EZB fürchtet nicht nur höhere Zinsen, sondern auch die Signale, die davon ausgehen. Die Inflation und steigende Zinsen erhöhen den Druck auf die hochverschuldeten Länder. Die Risiken ihrer Anleihen und Kredite steigen, und damit wachsen die Zinsdifferenzen zu den soliden Ländern. Die heutige EZB ist keine Freundin der Marktwirtschaft, sie misstraut den Signalen des Marktes – und sie will mit neuen und toxischen Kaufprogrammen für Staatsanleihen dagegenhalten.
Die EU hat sich vom Ziel der Währungsunion, «der Ergänzung des Binnenmarktes durch eine gemeinsame Währung mit hoher Preisniveaustabilität» meilenweit entfernt. Das kommt auf die Dauer nicht gut. Europa muss sich warm anziehen, nicht nur wegen der gestiegenen Energiepreise.
Und die 95 Rappen sind wohl noch nicht die Endstation für den Euro.