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Der Krieg gegen die Ukraine

Erlebnisse, Erfahrungen, Schlussfolgerungen, Stellungnahmen

Es ist unumstösslicher Grundsatz der Schweizerzeit, zu wichtigen Entwicklungen so umfassend wie sorgfältig eigene Erfahrungen zu sammeln – zu gewinnen aus Reisen und intensivem Studium aller erreichbaren Unterlagen.

Osteuropa ist ein Brennpunkt des Weltgeschehens. Wir befassen uns laufend mit Osteuropa, pflegen Kontakte, lassen uns orientieren. Ausserdem haben wir uns auf mehreren Russlandreisen kundig gemacht. Und fast alle Nachbarländer Russlands bereist: Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Exklave Kaliningrad, Tschechien, Belarus, Rumänien, Bulgarien, Georgien, Armenien, die Ukraine, die zentralasiatischen Republiken Usbekistan und Kirgistan, die Mongolei, Tibet, China, beide Korea. Überall fanden intensive Gespräche mit Kennern der Lage statt. All dies schärfte unseren Blick. Schlussfolgerungen zum Erlebten und Erfahrenen legen wir hier vor.

Russland und die Ukraine

Russlands Standpunkt, die Nato habe im Gegenzug zum nach 1990 erfolgten sowjetischen Truppenabzug aus Osteuropa ausdrücklich darauf verzichtet, sich bis an die Grenze Russlands auszudehnen, entbehrt mit grosser Wahrscheinlichkeit der schriftlichen Zusicherung. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums haben sich die russischen Staatschefs indessen mehrfach auf mündliche Zusagen bezüglich des Verzichts auf Nato-Osterweiterung bis an die Grenzen Russlands berufen – insbesondere auch Michail Gorbatschow, damals sowjetischer Partei- und Regierungschef. 2014 (die NZZ berichtete dies am 21. Februar 2022) soll sich Gorbatschow von solchen Äusserungen freilich distanziert haben.

Jewgenij Primakow

So umstritten diese behaupteten und dementierten Positionsbezüge sind, so präzise erinnere ich mich persönlich an den offiziellen Besuch in Bern von Jewgenij Primakow (1991–1996 Chef des russischen Auslands-Nachrichtendiensts, 1996–1998 russischer Aussenminister, 1998/1999 unter der Präsidentschaft Boris Jelzins russischer Ministerpräsident). Als Aussenminister orientierte er damals formell den Schweizer Bundesrat über die Position des «Neuen Russland» in der Staatenwelt. Primakow knüpfte damals auch Kontakt zu den Aussenpolitischen Kommissionen beider Räte. Einer Einladung zu einem äusserlich kargen Treffen, das einzig der Orientierung mit anschliessender Fragenbeantwortung diente, leisteten – wie ich mich erinnere – etwa zehn weitere Mitglieder der erwähnten Kommissionen Folge. An diesem Treffen warnte Primakow eindringlich vor der Ausdehnung der Nato bis an die Grenzen Russlands. Entsprechende Bedenken der russischen Regierung dem Bundesrat offiziell zu übermitteln, sei der Zweck seines Besuchs – nicht, weil Russland gegenüber der Schweiz Befürchtungen hege. Er orientiere die Schweiz als neutrales Land, dessen Anstrengungen zum Ausgleich von Differenzen zwischen Staaten von Moskau ausdrücklich gewürdigt würden. Als neutrales, sich jeglicher Parteinahme enthaltendes Land müsse die Schweiz Kenntnis erhalten, dass Russland eine Nato-Osterweiterung bis an seine Grenze als Bedrohung des Friedens werte.

Primakow wusste natürlich, wie der Schweiz gegenüber eine Botschaft zu formulieren ist, auf dass der russische Standpunkt darin auch voll zur Geltung kommt. Primakow anerkannte auch erstaunlich freimütig, dass Russland Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, keinerlei Mittel besitze, der Nato-Osterweiterung anders als mit Worten entgegenzutreten. Selbst dann nicht, wenn die Nato – wovor Primakow besonders nachdrücklich warnte – sogar die Ukraine als Ziel ihrer Osterweiterung ins Auge fasse. Dafür fehle Russland nicht nur alles Verständnis; sein Land sehe in solchem Schritt vielmehr eine Ursache neuer, zu einem späteren Zeitpunkt möglicherweise gar in Gewalt ausmündender Spannungen. Primakow warb nachdrücklich darum, das Ende des Ost-West-Konflikts so zu nutzen, dass die vitalen Interessen beider Seiten, auch Russlands, respektiert würden. Nur so entstünde eine Ordnung, die auf Dauer friedlich bleiben werde. Es gehe um die elementaren Interessen Russlands. Dass ich Augen- und Ohrenzeuge dieser Aussagen Primakows als Aussenminister Russlands war, dafür verbürge ich mich.

Weshalb der Nato-Argwohn?

Auf Fragen, worauf dieser ungeschminkte Widerspruch gegen die Ausdehnung eines auf Verteidigung ausgerichteten Bündnisses beruhe, bekannte sich Primakow – unter Verweis auf die ohne Uno-Legitimation erfolgenden Nato-Aktivitäten auf dem Balkan – offen dazu, dass er die Nato nicht als reines Verteidigungsbündnis einschätze.

Und er erinnerte nachdrücklich an die historischen Erfahrungen Russlands in den letzten zweihundert Jahren: Zweimal sei Russland von Westen her – von Napoleon und von Hitler – angegriffen worden. An der Grenze – über Hunderte von Kilometern durch topfebenes Gelände gezogen – könnten konzentrierte Angriffe der erfahrenen Stärke von keiner Armee aufgehalten werden. Erst vor Moskau seien beide Heere gestoppt und danach – ungeheuren Blutzoll der russischen Bevölkerung abfordernd – nach monatelangen blutigen Auseinandersetzungen wieder aus dem Land verdrängt werden – wovon ganz Europa in beiden Fällen markant profitiert habe.

Dieses Geschehen, ausgehend von der Unmöglichkeit, Russlands Westgrenze gegen massive Angriffe abzusichern, habe sich tief ins geschichtliche Bewusstsein aller Russen eingegraben. Und weil das so sei, sei der Anspruch Russlands legitim, mitreden zu können, wer unmittelbar vor Russlands Westgrenze das Sagen habe.

Propaganda oder echte Sorge?

Es gibt Politiker, die solche Äusserungen als aggressive Absichten tarnende Propaganda abtun. Wir haben auf mehreren Russland-Reisen mit Kontakten in alle Richtungen freilich erfahren, dass das Trauma der gegenüber Invasionsabsichten nicht wirklich absicherbaren Westgrenze in Russland tatsächlich verbreitet ist. Primakow war kein Hasardeur, kein politischer Marktschreier. Er war ein Realist, der die Interessen der Staaten sachlich und nüchtern zu beurteilen verstand. Sein Bemühen, die vitalen Interessen der nach dem Kalten Krieg um dauerhaften Frieden in Europa bemühten Länder und Persönlichkeiten kenntlich zu machen, wurde damals, vor 25 Jahren, eigentlich von niemandem als plumpe Propaganda abgetan.

Allerdings: Spürbares Bemühen um Berücksichtigung dieser Interessen Russlands anlässlich der Neuordnung Osteuropas nach dem Zerfall der Sowjetunion setzte sich nicht durch. Die Nato-Osterweiterung weniger weit voranzutreiben und im Gegenzug von Russland verbindliche und dauerhafte Anerkennung der Unabhängigkeit der dem sowjetischen Ostblock entronnenen Staaten einzufordern: Dies fand nicht statt. Mag sein, dass das Nichteingehen auf die damals zurückhaltend, aber bestimmt angemeldeten Interessen Russlands später anderen, aggressiveren Figuren als Jewgenij Primakow den Weg in den Kreml geebnet hat – denen, die heute einen Angriffskrieg führen.

Es erübrigt sich aber, sich in allerlei «wäre, könnte, würde und hätte» zu ergehen. Wir stehen jetzt einer ganz anderen, brandgefährlichen, in grosse Tragik mündenden Entwicklung gegenüber, in der Russland unter klarem Bruch von zwingendem Völkerrecht auf Überfall und Angriffskrieg setzt.

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Publiziert von Ulrich Schlüer

Dr. Ulrich Schlüer ist Historiker, Verleger und alt Nationalrat des Kantons Zürich. 1979 gründete Dr. Ulrich Schlüer die «Schweizerzeit», welche als bürgerlich-konservatives Magazin für Unabhängigkeit, Föderalismus und Freiheit bis heute erfolgreich seine Leserschaft bedient.

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