In den 70er Jahren folgten viele Italiener dem Ruf der Schweizer Wirtschaft. Primär die Baubranche war dringend auf Arbeiter angewiesen.
Und so reisten viele italienische Gastarbeiter in die Schweiz. Teilweise war ihnen sogar der Stellenwechsel verboten, und so wohnten diese Arbeiter oft in firmeneigenen Unterkünften und hatten we- der die Möglichkeit noch das Recht, sich hierzulande definitiv niederzulassen.
Die Älteren unter uns mögen sich noch erinnern, wie sich diese «Tschinggen» vor Weihnachten mit Sack und Pack auf unseren Bahnhöfen aufhielten und Extra-Züge in Richtung Süden bestiegen. Später blieben etliche bei uns in der Schweiz, und nicht wenige schafften den Sprung in die Selbständigkeit. In vielen Fällen heirateten unsere südlichen Nachbarn Schweizerinnen, gründeten Familien und wurden ansässig.
Import des organisierten Verbrechens
Bereits Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre wuchs die Erkenntnis, dass im Soge dieser Gastarbeiterströme auch Leute aus dem organisierten Verbrechen in die Schweiz einreisten. Dies hatte mehrere Gründe. Einerseits war damals das Schweizer Bankgeheimnis noch unumstösslich, und für die Strafverfolgungsbehörden war es, im Gegensatz zu heute, weit- aus schwieriger oder gar unmöglich, an entsprechende Unterlagen zu kommen. Zudem traten erst in den 90er Jahren das Geldwäschereigesetz und die entsprechen- den Strafbestimmungen im Schweizerischen Strafgesetzbuch in Kraft.
Das damalige Verhältnis – auch von polizeilicher Seite aus betrachtet – war ziemlich ambivalent und teil- weise mit der Hoffnung verbunden, dass die Mafia die Schweiz lediglich als Drehscheibe für Finanzgeschäfte und als Rückzugsort benutzen würde. Man wollte hier in der Schweiz keine erschossenen Mafiosi oder getötete Polizisten, Staatsanwälte und Richter. Bilder von Ermordeten, die auf offener Strasse in ihrem Blut liegen und die man so aus den italienischen Medien kannte, wollte man verständlicherweise nicht bei uns.
Die Rechnung ging bis zu einem gewissen Grad auf, und von Seiten der Behörden hat man die hier operierenden Mafiaorganisationen mehr oder weniger richtig eingeschätzt – mit Ausnahme der kalabrischen Mafia ’Ndrangheta. Gemäss Wikipedia «umfasst ihr Aktionsradius ganz Europa, Nord- und Südamerika sowie Russland und Australien mit einem geschätzten Jahresumsatz von 54 Milliarden Euro. Die kriminelle Vereinigung kontrolliert weite Teile des Kokainhandels in Europa und gilt weltweit als einer der grössten Kokainimporteure».
Einsatzgebiet statt Rückzugsort
Wie verschiedene und mit den italienischen Behörden koordinierte Polizeiaktionen hierzulande zeigen, ist die Schweiz für die ’Ndrangheta längst nicht mehr Rückzugsort, sondern Einsatzgebiet (siehe «Frauenfelder Zelle»). Kommt es in der Schweiz zu Festnah- men, Verurteilungen und Freiheitsstrafen, dann ist das Abschreckungspotenzial unseres Rechtssystems und des Freiheitsentzugs weitaus kleiner als im Ausland. Die Verurteilungen in der Schweiz fallen in der Regel milder aus, und die italienischen Gefängnisse sind nun wahrlich nicht mit unserem Strafvollzug zu vergleichen. Das zeigt sich auch in der Praxis: Hier festgenommene Italiener, welche wegen ihren mafiösen Aktivitäten nach Italien ausgeliefert werden sollten, wehrten sich mit allen erdenklichen juristischen Mitteln dagegen.
Ein weiterer Schritt gegen das organisierte Verbrechen ist das soeben gegründete Tessiner Observatorium am Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Lugano mit dem Ziel, den umfassenden Informationsaustausch im Kampf gegen die Schwerstkriminalität zu koordinieren. Ob man Organisationen wie die ’Ndrangheta unwiderruflich zerstören kann, ist nach realistischer Einschätzung wohl zu verneinen. Nicht einmal die beiden Weltkriege haben es geschafft, die italienische Mafia zu zerschlagen.
von Markus Melzl