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Die zweite nukleare Ära

Ausserhalb von Ländern wie der Schweiz oder Deutschland, die sich kurz- und mittelfristig aus der Kernenergie verabschieden wollen, geht die Entwicklung der Nukleartechnik weiter. Gerade die Erfahrungen nach dem Reaktorunfall von Fukushima haben zu einer zweiten nuklearen Ära geführt, die die Klimaschutzmassnahmen einzelner Länder unterstützen kann.

Zunächst ein kurzer Rückblick auf die erste nukleare Ära: In seinem im Jahr 1994 publiziertem Buch mit dem Titel «The First Nuclear Era» hat der amerikanische Nuklearpionier Alvin M. Weinberg die Rolle der USA beim Aufbau der ersten grossen Serie von Kernreaktoren beschrieben. Es handelte sich dabei um die beiden Leichtwasserreaktortypen Pressurized Water Reactor (PWR) and Boiling Water Reactor (BWR). Zusammen mit den kanadischen Schwerwasserreaktoren und den englischen Graphitreaktoren gehörten sie zur Klasse der Generation II-Typen, wie man sie heute nennt. Die amerikanischen Leichtwasserreaktoren wurden in den Jahren 1960 bis 1990 erstellt. Dazu gehören auch vier der fünf Schweizer Kernkraftwerke-Einheiten: Beznau 1 und 2, Mühleberg und Leibstadt. Die Anlage Gösgen ist mit einem Reaktor deutscher Herkunft errichtet worden.

In den USA standen 1990 über 100 dieser Reaktoren, in Frankreich 58 und in Japan 54. Weinberg betrachtet den Beginn der Neunziger Jahre als Ende der ersten nuklearen Ära. Danach wurden wegen der Reaktorunfälle Three Mile Island und Tschernobyl sowie wegen des steigenden öffentlichen Widerstands in den USA keine weiteren Reaktoren der Generation II mehr gebaut.

Die Reaktortypen der Generation III und III+

Basierend auf den Erfahrungen des Reaktorunfalls in Three Mile Island und einer Reihe weiterer Störfälle begannen die Reaktorbauer in verschiedenen Ländern mit der Weiterentwicklung der Reaktortypen der Generation II zu neuen Typen der sogenannten Generation III und Generation III+. Sie haben alle die folgenden neuen Charakteristika:

•Die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls mit Kern- schmelze wurde von 10–4 auf 10–7 reduziert.

• Die Kernschmelze, auch Corium genannt, wird noch im Reaktor selbst so gekühlt, dass sie drinnen bleibt, oder sie wird mit Hilfe eines sogenannten Core Catchers nach dem Durchschmelzen des Druckgefässes aufgefangen und innerhalb des Sicherheitsbehälters gekühlt und festgehalten. In beiden Fällen wird die Umgebung nicht oder nur in sehr beschränktem Masse tangiert.

• Weitere Neuheiten betreffen die Wirt-schaftlichkeit. Diese umfasst den besseren thermischen Wirkungsgrad, die von Anfang angeplante längere Betriebsdauer (60 bis 80 Jahre), höheren Abbrand und billigere Anreicherung-Kosten für die Brennelemente sowie günstigere Herstellungskosten durch modulare Bauweise.

Hauptinitiant und Hauptanwender dieser Neuheiten sind China, Frankreich, Russland und Südkorea. Die USA haben sich vor allem bei der Urananreicherung (Zentrifugen- statt Diffusionsanlagen) beteiligt. Sie haben sich daneben auf die Entwicklung der neuen Kleinreaktoren – die Small Modular Reactors (SMR) – konzentriert. Eine erste Serie eines SMR soll noch vor Ende der 2020er-Jahre im Idaho National Laboratory in Betrieb genommen werden.

Die zweite nukleare Ära

Man übertreibt nicht, wenn man feststellt, dass heute, nach Überwindung des Schocks von «Fukushima» die neue, zweite nukleare Ära begonnen hat. Mit Ausnahme von Belgien, Deutschland und der Schweiz gibt es kein Land, das eine «Energiewende» weg von der Nuklearenergie in eine Zukunft mit ausschliesslich sogenannter erneuerbarer Elektrizitätserzeugung gewählt hat. Ich sage sogenannt, weil ja bekanntlich das Gros der Solarzellen aus chinesischer Produktion mit viel grauer Kohlekraftwerk-Energie stammt.

Es gibt heute bereits zwanzig Länder mit Kernkraftwerksanlagen der Generation III / III+, die in Betrieb, im Bau oder geplant sind.

Landin Betriebim Baugeplant
Ägypten4
Argentinien1
Bangladesch2
Belarus11
Bulgarien2
China141336
Finnland11
Frankreich1
Grossbritannien24
Indien36
Iran11
Japan429
Polen6
Russland4311
Südkorea342
Tschech. Rep.2
Türkei31
Ungarn2
USA22
VAE22
Total314085

Klimaschutz kann die zweite nukleare Ära beschleunigen

Für grüne Politiker gilt: Stromerzeugung mit Wind, Fotovoltaik und eventuell Wasserkraft ist der einzig gangbare Weg zur «Dekarbonisierung». Kernenergie ist für sie nach wie vor inakzeptabel. Das einzige Land, das dieser Philosophie streng Folge leistet, ist Deutschland. Dass unser nördlicher Nachbar gegen Ende des Jahres mit der Leitung North Stream II in grossem Stil russisches Erdgas einführen wird, scheint niemanden zu stören. Erdgas besteht zu 93% aus Methan (CH4). Ein Gas, das zwischen 25- bis 80-mal Treibhaus-wirksamer ist als CO2! Auch bei nur geringen Lecks aus der mehrere tausend Kilometer langen Pipeline ist die Stromerzeugung mit Erdgas praktisch ebenso klimaschädlich wie Erdöl (25% besser als Kohle). Damit ist schon jetzt klar: Deutschland wird die CO2-Ziele der Pariser Konvention nie einhalten können.

Gut ist, dass zum Beispiel Polen – nicht wie die Schweiz – den deutschen «Energiewende»- Schwindel nicht mitmacht und seine momentan auf 60–70% Kohlestrom fussende Elektrizitätserzeugung langfristig auf Kernenergie umrüsten will. Auch die Tschechische Republik plant ein weiteres Kernkraftwerk. Weltweit mehren sich die Stimmen, die, wie Polen und die Tschechische Republik, der Kernenergie bei der Dekarbonisierung einen grossen Stellenwert beimessen.

Weiterentwicklung der zweiten nuklearen Ära

China hat im Juni 2021 seinen nächsten Fünf-Jahres-Plan veröffentlicht. Darin ist festgehalten, die Kernenergiekapazität um 20’000 MW zu erhöhen. Mit dieser Zielsetzung baut das Land der Mitte seine Führungsposition in der zweiten nuklearen Ära weiter aus.

An zweiter und dritter Stelle kann man Russland und Indien setzen. Russland hat sich bereits stark gemacht im Export von Kernkraftwerken der Generation III (Ägypten, China, Finnland, Indien, Iran, die Türkei, Weissrussland) und will diesen Sektor mit Erdgaseinkünften weiter ausbauen. Indien beschreitet einen Sonderweg. Es ist das Land mit den grössten Thorium-Vorkommen. Das Isotop Thorium-232 ist wie Uran-238 nicht spaltbar, kann aber beispielsweise in einem Brutreaktor der Generation IV in das spaltbare Uran-233 umgewandelt werden. Es ist Indiens langfristiges Ziel, auf diese Weise seine Energieversorgung für tausende von Jahren sicherzustellen.

Als nächstes Zweite-Ära-Nuklear-Land muss Frankreich genannt werden. Mit seinem EPR-Reaktorkonzept der Generation III spielt es trotz der grossen Anfangsschwierigkeiten beim Bau der Kernkraftwerkseinheiten Olkiluoto 3 (Finnland) und Flamanville 3 (Frankreich) ebenfalls in der ersten Liga mit. Grossbritannien muss seinen in die Jahre gekommenen Kernkraftwerkspark ersetzen und baut derzeit zwei EPR-Einheiten am Standort Hinkley Point C.

In China sind die beiden EPR Taishan 1 und 2 innerhalb von acht beziehungsweise neun Jahren vollendet worden. Die gleichen Überlegungen gelten für Südkorea, die Tschechische Republik und allenfalls Australien. Ein Umdenken kann man sich auch in den USA vorstellen. Ein(e) kluge(r) Präsident(in) könnte sich erinnern, dass die Amerikaner die Pioniere der ersten nuklearen Ära gewesen sind und dass ihre ingenieurmässigen und industriellen Kapazitäten hinreichend wären, den jetzt klar vorhandenen Rückstand aufzuholen.

Wo stehen wir in der Schweiz?

Mit dem Interview von Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher am 22. Juli im «Blick TV» hat die in verschiedenen Kreisen schon seit einiger Zeit kursierende positive Meinung zum Bau neuer Kernkraftwerke einen neuen Höhepunkt erreicht. Mit der Aufhebung des Kernkraftwerkverbots könnte eines der Projekte (Beznau 3, Gösgen 2 oder Mühleberg 2) wieder aus den Schubladen hervorgeholt und der zweiten nuklearen Ära auch in der Schweiz die Tore geöffnet werden.

Zwei Ziele stehen dabei im Vordergrund: Eine jederzeit genügende Stromversorgung und das Erreichen der Null-CO2-Emissionen bis 2050. Mit der «Energiewende»- Strategie wird dies nicht gelingen. Es braucht die Kernenergie. Vor allem auch für die Winterstromversorgung, wenn Fotovoltaik nirgends hin reicht. Wir benötigen deshalb ein Kernenergiegesetz, das den Bau neuer Kernkraftwerke nicht verbietet, sondern fördert.

von Dr. Hans Rudolf Lutz, ehem. Leiter des Kernkraftwerks Mühleberg

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Publiziert von Schweizerzeit

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