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Diplomatenjagd 1971 und 2019

Zum Rahmenabkommen Schweiz – EU

1971 singt der grosse deutsche Liedermacher Reinhard Mey seine Ballade «Diplomatenjagd». Bei der besungenen Gesellschaftsjagd «findet der Aussenminister den Tod», und dies, weil ein klappriger Ahnherr «das Wort Diplomatenjagd nur etwas zu wörtlich genommen hat».

Unser Aussenminister ist bei der heutigen Diplomatenjagd wohl ausser Gefahr. Aber wie steht es um seinen Chefdiplomaten Roberto Balzaretti?

Roberto Balzaretti, gemäss Blick der Bruce Willis der Schweizer Diplomatie, handelte letztes Jahr im Auftrag des Bundesrates mit der Europäischen Union das Rahmenabkommen aus. Der heutige Staatssekretär im Aussendepartement hat mit der EU viel Erfahrung. Seit dem 1. Februar 2018 ist er Chef der Direktion für Europäische Angelegenheiten. Von 2012 bis 2016 war er Schweizer Botschafter in Brüssel. Die erste Erfahrung mit der EU machte er 1992, als er als jüngster Diplomat im Team des Schweizer Botschafters Benedikt von Tscharner in Brüssel das EU-Beitrittsgesuch überreichte. Damit hat er, ohne eigenes Verschulden, viel zur Niederlage des Bundesrates in der EWR-Abstimmung beigetragen.

Am 7. Dezember 2018 hat der Bundesrat das Resultat der Verhandlungen
Balzarettis in Form des Rahmenabkommens veröffentlicht, ohne dazu eine Empfehlung abzugeben. Der Bundesrat weiss nicht, was er will und flüchtet sich deshalb in ein Konsultationsverfahren. «Seither wirbelt Staatssekretär Balzaretti als selbsternannter PR-Chef für das Rahmenabkommen durch die Schweiz» (Tages-Anzeiger). Darf er das?

 

Was ist ein Diplomat

Wikipedia sagt: Ein Diplomat ist ein Regierungsbeauftragter, der seinen Staat auf Regierungsebene gegenüber ausländischen Staaten oder internationalen Organisationen völkerrechtlich vertritt. Spätestens seit dem Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen von 1961 geniessen Diplomaten ein Recht auf Immunität: Dies bedeutet, dass ein Diplomat während der diplomatischen Mission vor Verfolgung, Verhaftung und auch vor sonstigen hoheitlichen Massnahme geschützt ist. Aber als mögliches Opfer einer Diplomatenjagd zuhause ist Roberto Balzaretti damit nicht geschützt.

Giovanni Guareschi, Schöpfer der Geschichten über Don Camillo und Peppone, definierte einen Diplomaten einmal wie folgt: «Ein Diplomat ist ein Mann, der offen ausspricht, was er nicht denkt».

Gemäss Duden hat «Diplomat» noch eine zweite Bedeutung: Ein Diplomat ist jemand, der geschickt und klug taktiert, um seine Ziele zu erreichen, ohne andere zu verärgern. Das ist wohl eher weniger die Stärke des Kampfsportlers Roberto Balzaretti.

 

Der Brückenbauer im Konsultationsverfahren

Weil der Bundesrat nicht weiss, was er will, oder weil der Mehrheit der Bundesräte der vorliegende Vertragsentwurf nicht passt, flüchtet sich unsere Regierung in ein innovatives Konsultationsverfahren, das es so gar nicht gibt. Angeblich möchte der Bundesrat in den noch offenen Punkten eine konsolidierte Haltung erreichen und allenfalls mit der EU erneut das Gespräch suchen. Tatsächlich liegt der Wert des Verfahrens nur darin, dass sich damit ein Entscheid bis nach den eidgenössischen Wahlen vom 20. Oktober hinauszögern lässt.

Balzaretti ist ein Mann von Ignazio Cassis. Vom Aussenminister wurde er auf den Stuhl des Chefunterhändlers gesetzt. Und weil Ignazio Cassis den vorliegenden Vertragsentwurf unterzeichnen möchte, missbraucht er Balzaretti jetzt als innenpolitischen Brückenbauer. Dass das nicht die Aufgabe des Chefdiplomaten sein kann, müsste der Aussenminister wissen. Wenn schon, dann ist es seine eigene Aufgabe. Es geht um Innenpolitik, nicht um Diplomatie nach aussen.

 

Polit-Cabaret in Brüssel

Stellen wir uns vor, dass sich der Bundesrat im November entscheiden wird, von der EU drei Änderungen am Rahmenabkommen zu verlangen: Erstens wird die Rechtsprechung durch den Europäischen Gerichtshof abgelehnt, zweitens sollen die flankierenden Massnahmen als ausgenommen erklärt werden. Drittens soll ein allenfalls überarbeitetes Freihandelsabkommen nicht dem Rahmenabkommen, also nicht der neuen Guillotine-Klausel unterstellt werden. Stellen wir uns vor, wie Roberto Balzaretti diese Forderungen seinen Verhandlungspartnern vortragen wird, die ihm während Monaten zugehört haben, wie er den Schweizerinnen und Schweizern dozierte, das Abkommen sei «Öl für das System» und «Wir brauchen dieses Abkommen».

Das wäre reines Polit-Cabaret. Sowas tut man nicht. Will der Bundesrat das Abkommen retten, muss er den innenpolitischen PR-Chef für das Rahmenabkommen von seinen aussenpolitischen diplomatischen Funktionen entbinden. Für Balzaretti gibt es noch viele nützliche Funktionen im diplomatischen Bereich der Schweiz.

 

Oder ist alles anders?

Vielleicht sollte man Balzaretti bei der Diplomatenjagd doch nicht abschiessen. Vielleicht ist er der geniale Diplomat, wie ihn Giovanni Guareschi beschrieben hat. Vielleicht ist er der Diplomat, der offen ausspricht, was er nicht denkt. Wirbt er für ein schlechtes Abkommen, weil er überhaupt kein Abkommen will? Hat er ein verfehltes Abkommen ausgehandelt, damit es dann von Volk und Ständen abgelehnt wird? Als er 1992 das verfehlte Beitrittsgesuch in Brüssel übergeben hatte, hat es bei der EWR-Abstimmung mit dem Nein auf jeden Fall perfekt geklappt. Wenn das alles so kommen sollte, dann ist er der König der Diplomaten, und wir singen mit Reinhard Mey: «Das war, bei Hubertus, ein prächtiger Blattschuss».

 

Hans Geiger

 

Link zum Lied von Reinhard Mey: https://www.youtube.com/watch?v=IXZQoxbBIMI

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Publiziert von Hans Geiger

Hans Geiger ist em. Professor für Bankwesen, wohnhaft in Weiningen ZH.

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