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Gelbe Westen für die Alten?

Es geht nicht um alte Arbeitslose, es geht um Europa

Die Schüler gehen auf die Strasse, wegen des Klimas. Die Frauen gehen auf die Strasse, wegen all ihrer Benachteiligungen in der Gesellschaft. Sollen auch die Alten, genauer die Leute über 50 Jahre, auf die Strasse?

Falls ja, sollten sie gelbe Westen tragen, damit sie auf der Strasse nicht überfahren werden, und weil dies eine erfolgreiche Form des Protestes ist. Warum aber sollten die Ü50 auf die Strasse? Weil sie im Arbeitsmarkt überfahren werden. Das ist das neue Thema in den Medien, und jetzt auch in der Politik.

 

Probleme bei den Banken, und auch sonst

Verfolgt man auf Inside Paradeplatz, der Internet-Plattform mit täglichen News zum Finanzplatz, die Anzahl Klicks und die Anzahl der Kommentare zu den Beiträgen, die mit den Arbeitsplatzsorgen der über 55 Jahre alten zu tun haben, gewinnt man den Eindruck, dass dies ein ganz grosses Thema ist. Bei den Banken, aber auch in anderen Branchen.

Der reisserisch betitelte Artikel vom 25. März 2019 «UBS kickt 45-jährige, vergoldet Frühstücks-Guy», wurde über 28‘000 Mal angeklickt und erhielt 86 Kommentare, von denen hier drei zitiert seien:

«Bin einer, der ′erst′ mit 55 eiskalt ausgemustert wurde […]. Wenn’s einem trifft, dann sind die Funktionsträger um dich herum nicht mehr deine lieben Chefs, KollegInnen, Partner, Freunde, sondern innert Sekunden – wortwörtlich gemeint! – gefühlslose Akteure. Weil sie alle selber Sch… in den Hosen haben, Job und Karriere zu verlieren».

Ein anderer Kommentarschreiber sagt: «Ich arbeite in bundesnahen Betrieben, die praktizieren das schon lange.»

Ein dritter Kommentator bespricht die politische Seite: «Langsam aber sicher habe ich das Gefühl, dass ein flächendeckendes Abservieren von Ü50 (oder Ü45) nur in der Schweiz möglich ist. Ich glaube in jedem anderen Land hätten sich die Betroffenen schon längst zusammengetan und sich zur Wehr gesetzt.»

 

Die Gründe für die Misere

In Online-Kommentaren, aber auch vermehrt in den Tageszeitungen, findet man folgende Begründungen für die Misere:

  • Die Personenfreizügigkeit mit der EU macht es für Firmen profitabler, teure ältere Schweizer durch billige junge Ausländer zu ersetzen.
  • Der «Inländervorrang», der im Rahmen der Nichtumsetzung der Masseneinwanderungsinitiative zum Schutze der älteren Schweizer Arbeitnehmer erlassen wurde, erweist sich als Etikettenschwindel. Jeder EU-Bürger gilt dabei als «Inländer», älteren Schweizern bietet er keinen Schutz.
  • Die Ausgestaltung der Beruflichen Vorsorge mit wesentlich höheren Prämien für ältere Arbeitnehmer macht deren Ersatz durch jüngere finanziell attraktiv.
  • Ganz allgemein wird das extreme Gewinnstreben kritisiert, das die früher gegenüber dem Personal gepflegte Solidarität und den Gemeinsinn immer mehr verdränge. Denn «je mehr Kosten ich rausschneide, desto mehr Bonus kriege ich». Und zuletzt zahlt der Steuerzahler. «Aufs Arbeitsamt folgt immer öfters die soziale Unterstützung. Die berappt der Fiskus».

 

Die Antwort der Politik

Der Bundesrat reagiert für einmal schnell entschlossen und überraschend. Aus heiterem Himmel kündet er Mitte Mai eine neue Sozialleistung zu Gunsten älterer Arbeitsloser an: Wer nach dem 60. Geburtstag ausgesteuert wird, erhält eine Überbrückungsleistung bis zur Pensionierung. Die Gewerkschaften freut es, und die Unia fordert zusätzlich eine Ausdehnung des Kündigungsschutzes für ältere Erwerbstätige.

Kurz nach dem Überraschungscoup des Bundesrates stellte sich heraus, dass der Verwaltung bei der klandestinen Vorbereitung ein grober Fehler unterlief und die Kosten des Vorschlages viel zu tief angegeben wurden. Das kennen wir doch von früheren Vorlagen. Die Begeisterung bei den Wirtschaftsverbänden über den Vorschlag aus dem Departement von Karin Keller-Sutter hält sich jetzt in Grenzen.

Die bundesrätliche Motivation hinter dem Vorschlag rührt offensichtlich nicht vom Mitgefühl mit den älteren Arbeitslosen her, sondern ist rein europapolitisch motiviert: Der Bundesrat will die Gewerkschaften für den Rahmenvertrag in die alte Europa-Phalanx zurückholen und zudem die Älteren, welche die Zuwanderung besonders skeptisch beurteilen, gegen die SVP-Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit gewinnen. So sieht das die NZZ.

 

Etwas Statistik

Die Klagen in den Medien und die Forderungen der Politik erwecken den Eindruck, es stehe besonders schlecht um ältere Arbeitskräfte. Stimmt das? Die Erwerbslosenquote der 55- bis 64-jährigen war im letzten Quartal 2018 mit 3,9 Prozent 2018 deutlich tiefer als der Durchschnitt aller Altersklassen (4,6 Prozent). Das war in den letzten Jahren immer so. In dieser Kennzahl sind auch die Ausgesteuerten berücksichtigt. Im ersten Quartal 2019 stieg die Zahl der erwerbslosen Alten allerdings stark auf 5,0 Prozent, leicht über den Durchschnitt (4,9 %).

Ein ähnliches Bild zeigt die Sozialhilfequote. Die Alten müssen weniger oft aufs Sozialamt als der Durchschnitt. Auch im europäischen Vergleich geht es den Schweizer Senioren gut: Die Erwerbsquote der 50 – 64-jährigen liegt im 4. Quartal 2018 mit 80,9 Prozent weit über dem Durchschnitt der EU-Länder (70,2 %). Nur Schweden und Island weisen noch bessere Zahlen aus.

 

Perverse Anreize

Die Situation der Älteren hat sich statistisch jüngst verschlechtert. Ob dies ein neuer Trend sein wird, muss sich noch zeigen. Einen Grund für politische Hektik gibt es auf dem Arbeitsmarkt ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil: Die bundesrätlichen Vorschläge und die gewerkschaftlichen Vorstösse sind kontraproduktiv. Sie führen für die Firmen zu perversen Anreizen.

In Tat und Wahrheit handelt es sich bei der Überbrückungsleistung um eine unwürdige Entlassungsrente. Die Firmen würden damit noch weniger Skrupel haben, 58-jährige zu entlassen, um sie für zwei Jahre zur Arbeitslosenkasse und anschliessend in die Überbrückungsrente zu schicken. Noch gravierender wären die Folgen beim gewerkschaftlichen Kündigungsschutz: Durch dessen Ausbau sänke der Anreiz, überhaupt ältere Arbeitskräfte einzustellen.

 

Wie weiter

Aus politischer Sicht geht es um die Zukunft der Personenfreizügigkeit. Das weiss auch der Bundesrat, weshalb er die Älteren für den Erhalt der Personenfreizügigkeit gewinnen will. Die Volksabstimmung über die «Volksinitiative für eine massvolle Zuwanderung» wird 2020 Klarheit schaffen.

Die Einführung zusätzlicher Überbrückungsleistungen und der Ausbau des Kündigungsschutzes müssen vermieden werden. Sie gäben den Arbeitgebern und Arbeitnehmern falsche Anreize. Kontraproduktives Verhalten beiderseits und eine Schwächung des schweizerischen Arbeitsmarktes wären die Folge.

Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen dazu beitragen, die Situation der älteren Mitarbeiter zu stabilisieren. Beide müssen bei Lohn- und Pensionsfragen und bei der Arbeitszeitregelung flexibel sein oder flexibler werden. Und beide müssen sich daran erinnern, dass Arbeit mehr ist als Broterwerb. Sie bedeutet auch Selbstverwirklichung. Oder mit Voltaire: Die Arbeit hält drei grosse Übel fern: Die Langeweile, das Laster und die Not.

 

Hans Geiger

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Publiziert von Hans Geiger

Hans Geiger ist em. Professor für Bankwesen, wohnhaft in Weiningen ZH.

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