Wer Russland nicht einfach oberflächlich mit Putin gleichsetzt, wer sich vielmehr die Mühe nimmt, auch mit sogenannt «gewöhnlichen Russen» über Russland zu diskutieren und dabei vor allem zuzuhören, wie sie Russland einschätzen, der gelangt rasch zu einer zweifellos wichtigen Erkenntnis:
Geschichtsbewusstsein und Geschichtskenntnisse sind in der russischen Bevölkerung tiefer verankert, als sich Westeuropäer mit der eigenen Geschichte befassen, zumal diese in ihrer Schulzeit kaum mehr in den Genuss ernsthaften Geschichtsunterrichts kommen.
Bedrohung aus dem Westen
Und eine einschneidende Erfahrung hat sich in der russischen Bevölkerung dominant festgesetzt: Russlands Westgrenze, Russlands Grenze gegen Westeuropa – Hunderte, ja Tausende von Kilometern nahezu topfebenes Gelände durchziehend – ist gegen einen konzentrierten Vorstoss aus dem Westen nicht zu verteidigen. Zweimal konnten massive Vorstösse aus dem Westen – von Napoleon und von Hitler entfesselt – erst vor Moskau gestoppt werden. Vor allem im Zweiten Weltkrieg musste Russlands Bevölkerung unermesslichen Blutzoll leisten, bis der Feind wieder vom russischen Boden verdrängt werden konnte.
In Sankt Petersburg sitzt diese Erfahrung besonders tief. Denn der hunderttägigen (erfolglosen!) Belagerung Leningrads fiel ein Drittel der Stadtbevölkerung zum Opfer. In einem besonderen Friedhof ruht in Massengräbern (nur der Todesmonat ist festgehalten) eine volle Million namenloser Verhungerter. Jede einzelne Familie in dieser Millionenmetropole erlebte den Hungertod naher Angehöriger. Noch heute wird ihrer regelmässig gedacht.
Wer mit Nachkommen aus dieser Notzeit je in Kontakt kommt, dem wird klar, dass Russland – nicht nur Putin – aufs Lebendigste daran interessiert ist, wer westlich seiner Landesgrenze das Sagen hat.
Versprochen oder nicht?
Ob in den Verhandlungen um den Abzug der Warschaupakt-Truppen aus Osteuropa, der den Zusammenbruch des Sowjetimperiums anfangs der Neunzigerjahre einleitete, den Russen tatsächlich versprochen worden ist, die Nato würde sich nicht bis an die Grenze Russlands ausdehnen, ist unklar, wird von beiden Seiten widersprüchlich kommentiert.
Wer russischer geschichtlicher Erfahrung aber auch nur ansatzweise Bedeutung beimisst, der muss zur Erkenntnis gelangen, dass solches Vordringen der Nato, dass der Bau von Raketen-Abschussrampen unmittelbar vor der russischen Westgrenze von den Russen – nicht nur von Putin – zumindest als Vorstufe zu kriegerischen Auseinandersetzungen empfunden und entsprechend scharf kritisiert wird. Beidseits als gerecht empfundener Frieden kann auf solchem Fundament nie und nimmer wachsen.
Zerstrittene Ukraine
Unter solchen Vorzeichen schaukeln derzeit Mutwillige den Konflikt um die Ukraine hoch.
Wer je die Ukraine etwas eingehender besucht hat, hat rasch erfahren, wie zutiefst zerstritten dieses Land ist. Der Westen – einst mit Lemberg als Zentrum Galiziens zur Donaumonarchie gehörend – orientiert sich ausgeprägt an westlichen Wertvorstellungen, will von Russland nichts wissen.
Der Osten – die Hauptstadt Kiew liegt ziemlich genau auf der «inneren Grenze» der Ukraine – orientiert sich dagegen ziemlich vorbehaltlos an Russland. Die Krim wurde vom aus der Schweizergeschichte gut bekannten General Alexander Suworow für Katharina die Grosse im 18. Jahrhundert erobert und Russland einverleibt.
Nachdem Stalin durch millionenfaches tödliches Aushungern den Genozid an den sich der Kollektivierung verweigernden ukrainischen Bauern befohlen und durchgesetzt hatte, schenkte Chrustschow der Ukraine, damals Teil der Sowjetunion, eine Art Unabhängigkeit, die nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums unversehens zu echter Unabhängigkeit wurde.
Friedlicher Ausgleich noch möglich?
Hätten die Westmächte, allen voran die USA, in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts formell und auf Dauer auf das Ausgreifen der Nato bis an die Grenze Russlands ausdrücklich verzichtet, so wäre es damals wohl möglich gewesen, Russland ebenso formell und auf Dauer auf einen Nichtangriffspakt gegenüber der unabhängigen, sich keinem Militärbündnis anschliessenden Ukraine zu verpflichten – womit echter Frieden in dieser Weltregion eine Chance bekommen hätte. An solchem Frieden wäre auch Russland – angesichts seines immensen wirtschaftlichen Nachholbedarfs – damals mehr als nur interessiert gewesen.
Jetzt aber regiert – auf beiden Seiten – Machtpolitik und stures Prestigedenken – wobei sich auch die von einer ebenso unfähigen – man denke an ihr radikales Versagen als deutsche Verteidigungsministerin – wie machtgierigen Chefin beherrschte EU dort gerne noch als «Global Player» glaubt profilieren zu müssen.
Die von beiden Seiten mit wortreicher Verantwortungslosigkeit gespickte Kriegstreiberei kann wohl nur gestoppt werden, wenn die Nato ehrlich und echt ihre Bereitschaft erklären würde, auf die Aufnahme der Ukraine ins westliche Militärbündnis zu verzichten, und wenn Russland im Gegenzug zu echter Nichtangriffspolitik gegenüber der Ukraine veranlasst werden könnte.
Gegenwärtig beherrscht Waffengeklirr das Geschehen – so unüberhörbar wie ziellos. Die Lage zu entspannen, dazu bedarf es zweifellos erheblicher Geduld – und kompetenter Verhandlungsführer mit langem Atem.
Dass der Westen den ersten und entscheidenden Schritt tun sollte, entspräche nichts anderem als politischer Vernunft. Angesichts der mutwilligen Zerstörung der westeuropäischen Energieversorgung im Dienst utopisch-ideologischer rot-grüner, auf Systemveränderung ausgerichteter Energie-Illusionen dürfte Russland sehr rasch zum wichtigsten Energielieferanten für Westeuropas Wirtschaft und Gesellschaft heranwachsen. Dieses Land vor den Kopf zu stossen und damit in die Arme Chinas zu treiben, ist ungefähr das Dümmste, was Westeuropa derzeit politisch bewerkstelligen könnte.
Das Umfassendste und geschichtlich Fundierteste, das ich bisher zu diesem Thema gelesen habe.
Sehr geehrter Herr Schlüer
Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Artikel «Kriegstreiberei wider die politisch Vernunft». Sie haben den Nagel wirklich auf den Kopf getroffen. Das schlimmste was nun für den Westen passiert, ist, wie Sie erwähnt haben, das Resultat, dass man Russland in die Arme der Chinesen treibt.
Freundliche Grüsse
Jürg Senn
Gauenweg 1
9478 Azmoos
Bliebe noch eine Ergänzung:
Russland steht gleich an drei Fronten unter Druck.
China hat zu Russland auch noch einige zugeschüttete, historisch wenig freundliche Episoden im Keller.
Bis zum Ende der UDSSR gab es Grenz Konflikte die teilweise in Schusswechseln ausgetragen wurden.
Russland-China ist keine Liebesbeziehung‚ eher ein Zweckbündnis.Der Sinn ist, sich gegenseitig den Rücken freihaIten.
Die Zweite Front ist die Südflanke gegen den Islam.
Die Dritte gegen die Säbelrasselnde NATO-EU—USA letztere mit massiven inneren Problemen.
Die Islamische Welt driftet in eine gigantische Demografisch-Ökonomische Katastrophe.( Beispiel Afghanistan, der Westen hat es verpasst Afghanistan auf eigene Beine zustellen, diesen bleibt nur noch verhungern oder China in die Hände laufen. Die Bevölkerung hat sich in der NATO Besatzungszeit glatt verdoppelt.)
Die Konfrontation Europa—USA-NATO gegen Russland ist die wohl grösste Geostrategische Dummheit der letzten 2000 Jahre.
Haven sie WW1 und WW2 vergessen?
Habe ich nicht vergessen auch das ,das Deutsche Keiserreich den Russen
den Kommunismus unterjubelte.Der Lenin war so nebenbei Asylant in der Schweiz damals in Zürich und Giswil wohnhaft. Alles in EINEN kommentar Packen geht eben schlecht.