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Kurzsichtigkeit und offene Panik


Die Tages-Anzeiger-Medien pflegen zum Jahreswechsel seit Jahren Standortbestimmungen bedeutender Persönlichkeiten zu veröffentlichen. Am 30. Dezember 2024 war Bundesrat Ignazio Cassis, Vorsteher des Aussendepartements, Gesprächspartner zweier Tages-Anzeiger-Journalisten.

Er hat ihnen auf Fragen Antworten erteilt, die bei mitdenkenden Leserinnen und Lesern nichts als neue Fragen auszulösen vermochten.

Weltpolitik

Wortreich, so etwas wie Panik verratend, kommentierte Bundesrat Cassis neue Tendenzen in der Geopolitik. Er beklagt insbesondere das Scheitern, Konflikte gewaltfrei zu bewältigen. Die Grossmächte würden ihre Ansprüche rücksichtslos, gegebenenfalls gar unter Gewaltanwendung durchsetzen. «America first» und «Europe first» würden das Denken und Handeln dominieren. Der Multilateralismus verfalle.

Wieso, Herr Aussenminister Ignazio Cassis, sind ausgerechnet Sie es, der angesichts solcher, von Ihnen deutlich beklagter Tendenzen die Neutralität der Schweiz preisgegeben haben? Wieso soll sich die Schweiz angesichts derart bedrohlicher Entwicklung Hals über Kopf einer Grossmacht unterordnen, die ebenfalls in mancher Weltgegend Waffen einsetzt, um eigene Machtinteressen durchzusetzen? Weshalb haben Sie als Aussenminister die Neutralität der Schweiz geopfert und Sanktionen gegen Russland erlassen? War Ihnen das Paradieren vor den Weltmedien zusammen mit Herrn Selenskyj vielleicht wichtiger als Ihre politischen Grundsätze und die völkerrechtlich verbriefte Neutralität der Schweiz?

Neutralität

Im Blick auf den Ukraine-Krieg verkünden Sie: «Die Schweiz muss also beweisen, dass sie neutral ist. Und dass sie international einen Mehrwert schafft, obwohl sie sich militärisch nicht engagieren kann.»

Ja, die Schweiz sollte vor allem angesichts einer kriegerischen Auseinandersetzung zeigen und beweisen, dass sie neutral ist. Warum aber, Herr Bundesrat Cassis, verfolgen Sie als Aussenminister der Schweiz, als derjenige, der unsere Neutralität international glaubwürdig vertreten müsste, genau den gegenteiligen Weg? US-Präsident Joe Biden frohlockte vor dem amerikanischen Kongress, dass die Schweiz aufgrund der von Ihnen, Herr Bundesrat, den USA zuliebe veranlassten Boykott-Massnahmen gegen Russland ihre Neutralität aufgegeben hat. Und postwendend zählte sein Gegner Putin die Schweiz unter die «Feindstaaten Russlands» – den Verrat an der Neutralität ausdrücklich kritisierend. Ihre öffentliche Parteinahme, Herr Bundesrat Cassis, hat voraussehbar diesen Zusammenbruch der neutralen Haltung der Schweiz vor Machtinteressen der Grossmächte herbeigeführt. Ihre Worte zur Neutralität verkommen zur hohlen Floskel, wenn die Neutralität von den Grossmächten nicht mehr wahrgenommen werden kann. Warum nur, Herr Aussenminister, konnten Sie der Schweiz dies – offenbar Ihren eigenen Grundsätzen widersprechend – antun?

Europa

Herr Bundesrat Ignazio Cassis erklärt es zur «strategischen Notwendigkeit, mit unseren Nachbarn eine stabile, vorhersehbare, ruhige Beziehung zu haben». Solche Politik verfolgt die Schweiz – als immerwährend bewaffnet neutrales Land – in der Tat seit Jahrzehnten konsequent und glaubwürdig. Sie wird bzw. wurde von ihren Nachbarn dafür entsprechend respektiert. Nun aber stellen Sie, Herr Bundesrat Cassis, fest, dass eine ganze Reihe europäischer Staaten, auch Nachbarländer der Schweiz, in krisenhafte Entwicklungen schlittern würden – wirtschaftlich wie politisch. Dies verlange von der Schweiz Solidarität.

Dazu erhebt sich die Frage: Mit wem wollen Sie denn solidarisch sein? Mindestens drei unserer Nachbarländer – Deutschland, Frankreich, Österreich – schlittern in Krisen, weil Regierende demokratisch zustande gekommene Wahlentscheide nicht zu respektieren bereit sind. Wollen Sie Solidarität zeigen zu den Verlierern und Verächtern demokratischer Wahlen, die mittels «politischer Brandmauern» die Wahlsieger von der politischen Mitverantwortung im Staat auszuschliessen trachten – als wären diese Brandstifter? Sollen wir Solidarität zeigen zum Kartell der Wahlverlierer, die demokratische Entscheide missachten – um sich weiterhin Macht und Privilegien zu sichern?

Europäische Union

Von den Tages-Anzeiger-Befragern lassen Sie sich widerspruchslos aufschwatzen, die Schweiz «isoliere sich» von Europa – weil das Schweizervolk bis heute nicht bereit gewesen ist, sich Brüssel unterzuordnen. Sie beschwören dazu unsere Wirtschaftsbeziehungen mit der EU. Tatsächlich: Die Schweiz sucht – und findet – seit Generationen gute Wirtschaftsbeziehungen zu allen Ländern dieser Welt.

Weshalb fällt es Ihnen, Herr Bundesrat, so unendlich schwer, einzusehen und anzuerkennen, dass es ausgerechnet die erfolgreichsten unter den Schweizer Wirtschaftsexponenten sind, die vor dem Funktionärsapparat in Brüssel und seiner die Wirtschaft in Europa zur Wettbewerbsuntauglichkeit verurteilenden Regulierungssucht nachdrücklich warnen – so unter andern seit Jahrzehnten die Tausenden gute Arbeitsplätze sichernde Familie Blocher, so neuerdings sehr nachdrücklich auch die Exponenten der Kompass-Initiative?

Sicherheit

Sie beklagen, dass weite Kreise der Öffentlichkeit nicht zu realisieren fähig seien, wie gefährlich sich die Weltlage zuspitze. Und wie dringlich es sei, der Armee mehr Mittel zur Verfügung zu stellen – als Antwort auf die weltpolitischen Herausforderungen.

Herr Bundesrat, Sie wissen nur zu genau, dass es seit dem Kalten Krieg, seit über dreissig Jahren eine Partei, die grösste Partei der Schweiz gewesen ist, die angesichts der fahrlässigen Vernachlässigung der Armee unablässig Warnungen publiziert hat. Die SVP konnte so den Raubbau an unserer Armee allenfalls verzögern; aufhalten konnte sie ihn indessen nicht. Weil die dafür erforderliche Mehrheit im Parlament angesichts des Abseitsstehens Ihrer Partei, Herr Bundesrat Cassis, nie erreicht werden konnte. Ihre FDP, Herr Bundesrat, hat uns während Jahrzehnten bloss hohle Phrasen aufgetischt im Sinne von «die Schweiz sei nur noch von Freunden umzingelt». Und jetzt, da Sie die Folgen dieser jahrzehntelang bewiesenen Kurzsichtigkeit erkennen, geraten Sie in Panik.

Die SVP ist ohne Wenn und Aber dabei, Korrekturen rasch herbeizuführen. In Ihrer Partei ziehen allerdings erst Teile der Führung am gleichen Strick.

Migration

Schliesslich beschwören Sie, Herr Bundesrat Cassis, die Gefahren, welche Europa und der Schweiz aus Nordafrika und aus Nahost drohen angesichts weiterer mit Sicherheit zu erwartender Migrationswellen.

Dürfen wir Sie daran erinnern, Herr Bundesrat Cassis, dass der Schweizer Souverän – also die höchste Instanz in unserem Land – den Bundesrat bereits vor über einem Jahrzehnt in einer Volksabstimmung formell damit beauftragt hat, endlich Barrieren gegen die überbordende Masseneinwanderung zu setzen? Sie erwiesen sich dazu als zu schwach, als zu unfähig. Sie liessen auch massenhaften Asylmissbrauch zu. Und jetzt wollen Sie mit der Schweiz in die Arme jener flüchten, die mit dem Aufruf «Wir schaffen das!» die Migrationsflut für ganz Europa erst so richtig entzündet haben?

Das Schweizervolk, der Souverän der Schweiz, hat den Bundesrat längst verbindlich beauftragt, die Masseneinwanderung zu stoppen. Dass dies in Europa möglich ist, beweisen Länder wie Ungarn und Dänemark aufs eindrücklichste. Sollten Sie sich als zu schwach erachten, gleiche Leistung zu erbringen, dann – so glauben wir – befinden Sie sich nicht am richtigen Platz.

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Publiziert von Ulrich Schlüer

Dr. Ulrich Schlüer ist Historiker, Verleger und alt Nationalrat des Kantons Zürich. 1979 gründete Dr. Ulrich Schlüer die «Schweizerzeit», welche als bürgerlich-konservatives Magazin für Unabhängigkeit, Föderalismus und Freiheit bis heute erfolgreich seine Leserschaft bedient.

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15 Kommentare

  1. Eine kurze Aufzählung einiger Neutralitätssünden von I. Cassis. Kaum hatte der russische Einmarsch in die Ukraine begonnen, organisierte I. Cassis in Lugano eine sog. Aufbaukonferenz zu Gunsten der Ukraine. Völlig verfrüht, heute vergessen aber vom Steuerzahler finanziert. Dann gab es eine private antirussische Demo zu Bern. Dort erschien der Aussenminister der neutralen Schweiz und sprach den Präsidenten der Ukraine (zugeschaltet) als «mein lieber Wolodimir» in wärmsten Worten an. Und dann machte man zusammen mit V. Amherd die nutzlose, teure Bürgenstockkonferenz ohne Russland.

  2. Stimme zu. Leider aber haben unsere SVP-Magnaten nicht verhindert, dass die Armee geschleift wurde. Ohne eine starke Armee ist auch die Neutralität nichts wert.

  3. Jene Kreise, die durch ein falsches Menschenbild nun seit Jahrzehnten selbst geringste sich aufdrängende Sicherheitsmassnahmen zum Schutz von Land und Bevölkerung mit Füssen treten, werden auch jene sein, die schliesslich nach den drakonischsten, freiheitsfeindlichsten Massnahmen rufen werden, wenn die durch ihre Largesse am falschen Ort provozierten Verwerfungen unhaltbar und zerstörerisch geworden sind.

  4. Was kann das Volk tun, um zu verhindern, dass es zu weiteren BR Entscheidungen im Alleingang à la Cassis und Amherd kommt, für die eigentlich der Gesamt BR, das Parlament und letztlich das Volk zuständig ist?
    Der BR soll vom Volk gewählt werden!

    • Wenn ich Geld hätte, würde ich eine Initiative starten, dass das Volk unfähige BR welche gegen das Volk regieren abwählen könnte und zwar ohne Ruhegehalt. Bedenklicher BR!!!!!!

  5. Bravo weiter so!
    Jedoch dringend nötige Korretur im Bundesrat auch Ständerat: Erstellen einer Initiative (Gesetz) für solche im Parlament, speziell Bundesrat die auf die Bibel geschoren haben und heute Landesverräter sind ab zu wählen!
    Danke für ihr geschäztes unermüdliches Engagement für unsere Eidgenossenschaft, es grüsst Hugues Lüdi Hombrechtikon

  6. Sehr geehrter Herr Schlüer, auch wenn ich mit fast allem, was Sie sagen, einverstanden bin, bleiben doch gewichtige Fragen offen. Verhält es sich mit unserer Neutralität denn so klar? Es ist ja ein voll asymmetrischer Krieg in der Ukraine, wurde dieses unabhänbgige Land doch völkerrechtswidrig von Putin überfallen. Sind nicht alle Länder des europäischen Westens – und auch wir – damit indirekt (vorl. noch hybrid) auch angegriffen? Sollen die Ukrainer wirklich allein unsere heissen Kohlen aus dem Feuer holen? Ich weiss, es ist ein Dilemma, und so klar, wie Sie meinen, scheint’s nicht zu sein.

  7. jokathriner@yahoo.com

    Warum wird immer noch um den heissen Brei geredet?
    Warum werden Schweiz-Verräter nicht namentlich, öffentlich angeprangert?
    Warum werden Standortbestimmungen mit Steuergeldern finanzierten Organisationen gemacht, statt mit dem Souverän, der die politischen Irrläufe zu korrigieren hätte?
    Ganz Europa will aufrüsten und die NATO-Vorgaben möglichst erfüllen, obwohl dazu das Geld fehlt und selbst über Verschuldung regulär nichts mehr freigeschaltet werden kann……aber an FRIEDEN denkt das Gesindel auf Regierungsstühlen nicht…..!!

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