Ukraine: Was bleibt vom Völkerrecht?

Russland und die Ukraine führen Krieg. Die Schweiz trägt die Sanktionen der EU gegen Russland mit, entgegen der bisherigen Praxis als neutraler Staat. Lob in der Boulevardpresse ist dem Bundesrat gewiss; aber als Vermittlerin zur Konfliktlösung, die von beiden Kriegsparteien akzeptiert wird, kommt die Schweiz nicht mehr in Frage. Bereits hat Russland auch die Schweiz auf die Liste «unfreundlicher Staaten» gesetzt. Wer Aussenpolitik anhand von Umfragewerten betreibt, wird nicht als neutraler Staat akzeptiert. Die Kriegsereignisse und auch die Rolle der Schweiz werden breit diskutiert.
Eher wenig debattiert wird dagegen die Rolle des Völkerrechts. Zwar monieren Politiker und Journalisten, dass Russland mit seiner Aggression Grundpfeiler des Völkerrechts missachtet. Man müsste diesen Gedanken aber weiterführen: Der Welt wird derzeit gerade die Nicht-Relevanz des Völkerrechts an sich vor Augen geführt, und zwar unabhängig vom Kriegsausgang: Mit seinem Angriffskrieg gegen einen souveränen Staat setzt sich Russland in der Tat u.a. über das Prinzip der territorialen Unversehrtheit anderer Staaten hinweg – Völkerrecht hin oder her. Aber auch falls die Ukraine die russischen Truppen zurückdrängen kann, ergibt sich daraus kein schmeichelhaftes Fazit für den Wert des Völkerrechts. Ein russischer Rückzug wäre nicht aufgrund einer völkerrechtlichen Autorität erzwungen worden, da es eine solche nicht gibt. Der Grund wäre vielmehr in der Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Armee zu suchen – verbunden mit Waffenlieferungen aus westlichen Staaten. Würde die Ukraine gutgläubig auf die Durchsetzung des Völkerrechts vertrauen, hätte das Land inzwischen seine Kapitulation unterzeichnen müssen.
Symptomatisch für die Rolle des Völkerrechts als blosser Zaungast internationaler Politik ist das Verhalten der Uno: Im Sicherheitsrat, der Sanktionen beschliessen könnte, hat Russland ein Vetorecht – das Gremium ist somit lahmgelegt. Gereicht hat es einzig zu einer unverbindlichen Resolution an der Generalversammlung. Selbstverständlich fordert UN-Generalsekretär António Guterres repetitiv eine Einstellung der Feindseligkeiten, und ebenso selbstverständlich bleibt die Wirkung der Ermahnung aus. Der amerikanischer Schriftsteller Leon Uris hat einmal gesagt: «Internationales Recht ist das, was Übeltäter missachten, während Rechtschaffende ablehnen, es mit Gewalt durchzusetzen.» Die Worte gelten auch 2022 noch.
Patrick Freudiger