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Unser Schweizer Standpunkt

Die hier auszugsweise abgedruckte Rede von Carl Spitteler, gehalten vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft, Gruppe Zürich, am 14. Dezember 1914, zum Wesen der schweizerischen Neutralität und zum Zusammenhalt der Schweiz, ist auch heute hochaktuell.

Meine Herren und Damen, wir haben es dazu kommen lassen, dass anlässlich des Krieges zwischen dem deutschsprechenden und dem französischsprechenden Landesteil ein Stim-
mungsgegensatz entstanden ist. Diesen Gegensatz leicht zu nehmen, gelingt mir nicht. Es tröstet mich nicht, dass man mir sagt: «Im Kriegsfall würden wir trotzdem wie ein Mann zusammenstehen.» Das Wörtchen «trotzdem» ist ein schlechtes Bindewort. Sollen wir vielleicht einen Krieg herbeiwünschen, um unserer Zusammengehörigkeit deutlicher bewusst zu werden? Das wäre ein etwas teures Lehrgeld. Wir können es billiger haben. Und schöner und schmerzloser. Ich glaube, wir sollten uns (besser) um das Verhältnis zu unsern französisch sprechenden Eidgenossen kümmern.

Was ist denn eigentlich vorgefallen? Nichts ist vorgefallen. Man hat sich einfach gehen lassen. Wenn aber zwei nach verschiedener Richtung sich gehen lassen, so kommen sie eben auseinander. Wie auf den übrigen Gebieten, so hat auch in unserm Gemüts- und Geistesleben die Plötzlichkeit des Kriegsausbruches gleich einer Bombe eingeschlagen. Die Vernunft verlor die Zügel, Sympathie und Antipathie gingen durch und liefen mit einem davon. Beobachte ich aber richtig, so ist der Verstand schliesslich doch angekommen. Wir sind jetzt, wie ich glaube und hoffe, in der Stimmung der Umkehr und Einkehr.

Aber eine gewisse Meinungsverwirrung, eine gewisse Ratlosigkeit und Richtungsverlegenheit ist noch vorhanden. Da hinein ein bisschen Ordnung zu stiften, ist die Aufgabe der Stunde, mithin auch meine Aufgabe.

Vor allem müssen wir uns klar machen, was wir wollen. Wollen wir oder wollen wir nicht ein schweizerischer Staat bleiben, der dem Auslande gegenüber eine politische Einheit darstellt? Wenn nein, wenn jeder sich dahin mag treiben lassen,

wohin ihn seine Privatneigung schiebt und wohin er von aussen gezogen wird, dann habe ich Ihnen nichts zu sagen. Wenn aber ja, dann müssen wir inne werden, dass die Landesgrenzen auch für die politischen Gefühle Marklinien bedeuten. Alle, die jenseits der Landesgrenze wohnen, sind unsere Nachbarn; alle, die diesseits wohnen, sind mehr als Nachbarn, nämlich unsere Brüder. Der Unterschied zwischen Nachbar und Bruder aber ist ein ungeheurer. Auch der beste Nachbar kann unter Umständen mit Kanonen auf uns schiessen, während der Bruder in der Schlacht auf unserer Seite kämpft.

Die eidgenössische Fahne

Wir müssen uns bewusst werden, dass der politische Bruder uns nähersteht als der beste Nachbar und Rassenverwandte. Dieses Bewusstsein zu stärken, ist unsere patriotische Pflicht. Wir sollen einig fühlen, ohne einheitlich zu sein. Und nun suchen wir nach einem gemeinsamen Symbol, das die Elemente der Schwäche überwinde. Dieses Symbol besitzen wir glücklicherweise: die eidgenössische Fahne. Es gilt also, näher als bisher um die eidgenössische Fahne zusammenzurücken und dementsprechend denen gegenüber, die zu einer andern Fahne schwören, auf die richtige Distanz abzurücken.

Die Aufgabe des Neutralen

Ohne Zweifel wäre es nun für uns Neutrale das einzig Richtige, nach allen Seiten hin die nämliche Distanz zu halten. Aber das ist leichter gesagt als getan. Den Westschweizern droht die Versuchung, sich zu nahe an Frankreich zu gesellen, bei uns ist es umgekehrt. Sowohl hier wie dort ist Mahnung, Warnung und Korrektur nötig. Die Korrektur aber muss in jedem Landesteil von sich aus, von innen heraus geschehen.

Das Distanzgewinnen ist für den Deutschschweizer ganz besonders schwierig. Noch enger als der Westschweizer mit Frankreich ist der Deutschschweizer mit

Deutschland auf sämtlichen Kulturgebieten verbunden. Unzählige Bande von geschäftlichen Wechselbeziehungen, von geistigem Einverständnis, von Freundschaft haben sich gebildet, ein schönes Eintrachtsverhältnis, das uns während der langen Friedenszeit gänzlich vergessen liess, dass zwischen Deutschland und der deutschen Schweiz etwas wie eine Grenze steht.

Warum stehen eigentlich unsere Truppen an der Grenze? Und warum stehen sie an allen Grenzen, auch an der deutschen? Offenbar, weil wir keinem einzigen unserer Nachbarn unter allen Umständen trauen. Warum aber trauen wir ihnen nicht? Und warum wird das Misstrauen von unsern Nachbarn nicht als beleidigend empfunden, sondern als berechtigt anerkannt? Deshalb, weil eingestandenermassen politische Staatengebiete keine sentimentalen und keine moralischen Mächte sind, sondern Gewaltmächte.

Bündnispolitik wäre der Anfang vom Ende der Schweiz

Während andere Staaten sich durch Diplomatie, Übereinkommen und Bündnisse einigermassen vorsehen, geht uns der Schutz der Rückversicherung ab. Wir treiben ja keine hohe auswärtige Politik. Denn der Tag, an dem wir ein Bündnis abschlössen oder sonst wie mit dem Auslande Heimlichkeiten mächelten, wäre der Anfang vom Ende der Schweiz.

In Kriegszeiten, wo wir Gefahr wittern, befinden wir uns in der Lage des Bauern, der im Walde ein Wildschwein grunzen hört, ohne zu wissen, kommt es, wann kommt es, und woher kommt es. Aus diesem Grunde stellen wir unsere Truppen rings um den ganzen Waldsaum. Und dass nur ja niemand sich auf die Freundschaft verlasse, die zwischen uns und einem Nachbarvolke in Friedenszeiten waltet.

Bei aller herzlichen Freundschaft, die uns im Privatleben mit Tausenden von Deutschen verbindet, bei aller Solidarität, die wir mit dem deutschen Geistesleben pietätvoll verspüren, bei aller Traulichkeit, die uns aus der gemeinsamen Sprache heimatlich anmutet, dürfen wir dem politischen Deutschland gegenüber keine andere Stellung einnehmen als gegenüber jedem andern Staate: die Stellung der neutralen Zurückhaltung in freundnachbarlicher Distanz diesseits der Grenze.

Wir müssen uns die Tatsache vor Augen halten, dass im Grunde kein Angehöriger einer kriegführenden Nation eine neutrale Gesinnung als berechtigt empfindet. Er kann das mit dem Verstande, wenn er ihn gewaltig anstrengt, aber er kann es nicht mit dem Herzen. Wir wirken auf ihn wie der Gleichgültige in einem Trauerhause.

Nun sind wir zwar nicht gleichgültig. Allein da wir uns nicht rühren, scheinen wir gleichgültig. Darum erregt schon unser blosses Dasein Anstoss. Anfänglich wirkt es unangenehm befremdend, allmählich die Ungeduld reizend, schliesslich widerwärtig, verletzend und beleidigend.

Der patriotisch Beteiligte ist ja von dem guten Recht seiner Sache heilig überzeugt und ebenso heilig von dem schurkischen Charakter der Feinde. Und nun kommt einer, der sich neutral nennt, und nimmt wahrhaftig für die Schurken Partei! Denn ein gerechtes Urteil wird ja als Parteinahme für den Feind empfunden. Und kein Verdienst, kein Ansehen, kein Name schützt vor der Verdammnis. Im Gegenteil. Dann erst recht. Denn dann wird einem neben Untreue und Verrat noch Undank vorgeworfen

Wie den gefährlichen Drohungen begegnen?

Wer schweigen darf, preise sich glücklich, dass er’s darf, und schweige. Wer es nicht darf, der halte es mit dem Sprichwort: Tue, was du sollst, und kümmere dich nicht um die Folgen. Um unsere neutralen Seelen zu retten, kommen uns ferner (deutsche) Propagandaschriften ins Haus geflogen. Meist überlaut geschrieben, öfters im Kommandoton, mitunter geradezu furibund. Und je gelehrter, desto rabiater. Dergleichen verfehlt das Ziel.

Einer entgegengesetzten Versuchung hat sich unser Landesteil leider nicht genügend zu entziehen gewusst – einer unfreundlichen Gesinnung gegen Frankreich. Es handelte sich auch bei der unfreundlichen Gesinnung keineswegs um vernünftige Gründe patriotischer Art, sondern um instinktive Gefühle. Die Äusserungen der instinktiven Gefühle aber waren mitunter so, dass ich in den ersten Wochen des August den Wunsch seufzte, es möchte neben den milden Feldpredigten einmal ein kräftiger politischer Redner unsern Leuten mit Russ und Salz die Grundsätze der Neutralität einprägen.

Die richtige neutrale Einstellung zu den übrigen Staaten wäre für uns Deutschschweizer eigentlich leicht, da hier die Versuchungen zur Parteilichkeit wegfallen. Wenn wir nur immer auch als Schweizer fühlten und urteilten! Wenn wir nicht mit fremden Köpfen dächten und mit fremden Zungen sprächen! Wenn wir uns nicht unsere Meinung vom Auslande suggerieren liessen!

Die tausend und abertausend geistigen Einflüsse, die tagtäglich von Deutschland her gleich einem segensreichen Nilstrom unsere Gauen befruchtend überschwemmen, sind in Kriegszeiten nur filtriert zu geniessen. Eine kriegerische Presse ist überhaupt keine erhebende Literatur. Und (ebenso) haben wir die Feinde des Deutschen Reiches, die nicht unsere Feinde sind, nicht nach der Maske zu beurteilen, die ihnen der Hass und der Zorn aufgesetzt, sondern nach ihrem wirklichen Gesicht. Mit andern Worten: Wir sind als Neutrale den übrigen Völkern die nämliche Gerechtigkeit des Urteils schuldig, die wir den Deutschen gewähren, deren Bild wir uns ja auch nicht in der französischen Verzerrung aufnötigen lassen.

Mehr Bescheidenheit

Zum Schluss eine Verhaltungsregel, die gegenüber sämtlichen fremden Mächten gleichmässig Anwendung findet: die Bescheidenheit. Mit der Bescheidenheit statten wir den Grossmächten den Höflichkeitsdank dafür ab, dass sie uns von ihren blutigen Händeln dispensieren. Mit der Bescheidenheit zollen wir dem todwunden Europa den Tribut, der dem Schmerz gebührt: die Ehrerbietung. Mit der Bescheidenheit endlich entschuldigen wir uns. «Entschuldigung? Wofür?» Wer jemals an einem Krankenbett gestanden, weiss wofür. Für einen fühlenden Menschen bedarf es der Entschuldigung, dass er sich des Wohlbefindens erfreut, während andere leiden.

Und da wir doch einmal von Bescheidenheit sprechen, eine schüchterne Bitte: Die patriotischen Phantasien von einer vorbildlichen (oder schiedsrichterlichen) Mission der Schweiz bitte möglichst leise. Ehe wir andern Völkern zum Vorbild dienen könnten, müssen wir erst unsere eigenen Aufgaben mustergültig lösen. Mir scheint aber, das jüngste Einigkeitsexamen haben wir nicht gerade sehr glänzend bestanden.

Meine Herren und Damen, die richtige Haltung zu bewahren, ist nicht so mühsam, wie sich’s anhört, wenn man’s logisch auseinanderlegt. Wenn ein Leichenzug vorüber geht, was tun Sie da? Sie nehmen den Hut ab. Als Zuschauer im Theater vor einem Trauerspiel, was fühlen Sie da? Erschütterung und Andacht. Und wie verhalten Sie sich dabei? Still, in ergriffenem, demütigem, ernstem Schweigen. Eine Ausnahmegunst des Schicksals hat uns gestattet, bei dem fürchterlichen Trauerspiel, das sich gegenwärtig in Europa abwickelt, im Zuschauerraum zu sitzen. Auf der Szene herrscht die Trauer, hinter der Szene der Mord. Wohin Sie mit dem Herzen horchen, sei es nach links, sei es nach rechts, hören Sie den Jammer schluchzen, und die jammernden Schluchzer tönen in allen Nationen gleich, da gibt es keinen Unterschied der Sprache.

Wohlan, füllen wir angesichts dieser Unsumme von internationalem Leid unsere Herzen mit schweigender Ergriffenheit und unsere Seelen mit Andacht, und vor allem nehmen wir den Hut ab. Dann stehen wir auf dem richtigen neutralen, dem Schweizer Standpunkt.

Der studierte Theologe Carl Spitteler (1845–1924) arbeitete als Lehrer, Redaktor, freier Journalist und schliesslich als freier Schriftsteller. Nach der Ehrendoktorwürde der Universitäten Zürich und Lausanne erhielt er 1919 als erster gebürtiger Schweizer den Nobelpreis für Literatur. Mit seiner Rede vom Dezember 1914 mit dem Titel «Unser Schweizer Standpunkt» setzte er sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs staatsmännisch zugunsten der Einheit der neutralen Schweiz ein. Seine Worte haben auch heute, da unsere Neutralität von den sogenannten Eliten gering geschätzt wird, höchsten Stellenwert.

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Publiziert von Schweizerzeit

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