Wenn die Demokratie in Europa – besser gesagt in der Europäischen Union – bedroht ist, müssen die europäischen Demokraten lautstark protestieren. Was heute auf dem Spiel steht, ist alles andere als eine Kleinigkeit.
In ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament vom 19. Oktober 2021 erklärte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass das jüngste Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, wonach die polnische Verfassung Vorrang vor manchen EU-Gesetzen habe, «die Grundlagen der Europäischen Union in Frage stellt». Laut von der Leyen sei es «die Pflicht der Kommission, die Rechte der EU-Bürger zu schützen», und deshalb werde «die Kommission handeln». Diese Ankündigung war beispiellos.
Die zentrale Frage
In den letzten Wochen hat das polnische Verfassungsgericht ausdrücklich eine Frage aufgeworfen, die sich alle wahren Demokraten seit Jahrzehnten stellen:
Soll der europäische Integrationsprozess zur Schaffung einer supranationalen Entität führen, die über den einzelnen Mitgliedstaaten steht? Oder sollen diese Staaten ihre Souveränität behalten und nur einen Teil davon an Brüssel abgeben?
Das ist die zentrale Frage, die den europäischen Integrationsprozess seit den fünfziger Jahren begleitet. Jeder weiss das oder sollte es zumindest wissen. Und niemand darf die Augen davor verschliessen, dass es hier ein Problem gibt. Auch Frau von der Leyen nicht.
Polnische Verfassung hat Vorrang vor EU-Gesetzen
Nach monatelangem intensivem Nachdenken hat das polnische Verfassungsgericht die Meinung formuliert, dass (…) ein Teil der EU-Verträge «nicht mit der Verfassung der Republik Polen vereinbar ist». Und es hat hinzugefügt, dass die polnische Verfassung Vorrang vor europäischen Gesetzen hat.
Diese Aussage mag in Brüssel nicht sehr beliebt sein, aber es ist die Meinung eines legitimen Verfassungsorgans eines EU-Mitgliedstaates (entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe vom Mai 2020), und niemand hat das Recht, sie zu missachten. Nicht einmal Beamte der Europäischen Kommission wie Frau von der Leyen.
Zweifellos hat sie nicht das Recht zu behaupten, dass dies «die Grundlagen der Europäischen Union in Frage stellt». Ganz bestimmt hat die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts die einseitigen Ansichten und Positionen in Frage gestellt, die seit Jahren von einigen europäischen Beamten, einem Grossteil der europäischen Aktivisten und sogar von einigen europäischen Politikern vertreten werden. Aber mehr hat das polnische Verfassungsgericht nicht gemacht.
Zum Schutz der Unionsbürger?
Frau von der Leyen verkündet, dass die Europäische Kommission die Bürger der Union schützen müsse, und plant, in diesem Sinne zu handeln. Auch wir sind Bürger eines EU-Mitgliedstaates, aber wir fühlen uns durch die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts nicht bedroht. Niemand muss uns vor ihr schützen.
Wir haben im Gegenteil das Gefühl, dass wir uns im Rahmen der EU gegen die Schwächung der Souveränität einzelner Staaten «schützen» müssen. Wir sind auch nicht davon überzeugt, dass die polnischen Bürger den Schutz der Kommissarin Ursula von der Leyen brauchen. Die Polen haben in der Geschichte mehrfach bewiesen, dass ihnen die Souveränität ihres Landes am Herzen liegt. Es ist äusserst unsensibel, dass Frau von der Leyen in ihrer Rede auf die polnische Gewerkschaft Solidarnosc vor vierzig Jahren verwies, deren Ziel es war, die sowjetische Herrschaft über Polen zu beenden.
Polen hat sich nicht von der sowjetischen Herrschaft befreit, um seine Souveränität jetzt erneut zu verlieren, wenn auch unter scheinbar demokratischen Bedingungen.
Genau darum ging es dem polnischen Verfassungsgericht in seinem Urteil. Es ist die Pflicht von uns Tschechen, in unserem eigenen Interesse die Polen in dieser Angelegenheit zu unterstützen.
von Václav Klaus, ehem. Ministerpräsident und Staatspräsident der Tschechischen Republik
Deutsche Fassung des englischen Beitrags «Václav Klaus Institute on Commissioner Leyen’s attacks on Poland» vom 19. Oktober 2021
(klaus.cz); übersetzt von Andreas Lombard – Kurz vor der Rede Ursula von der Leyens schickte Václav Klaus einen Brief an Jaroslaw Kaczynski, in dem er die polnische Position persönlich unterstützte.
Die «Schweizerzeit» dankt Václav Klaus und Andreas Lombard (Chefredakteur CATO) für ihre freundliche Einwilligung zur Publikation