Wie einst in der UdSSR

EU-Reisehindernisse A1
EU-Bürger und Schweizer müssen eine sogenannte A1-Bescheinigung mit sich führen, wenn sie eine Geschäftsreise ins EU-Ausland unternehmen. Für den Mittelstand eine Katastrophe.
Chauffeure, Bauarbeiter, Verwaltungsräte, an Messen delegierte Mitarbeitende, Berater aller Art, Lehrpersonal, Dozenten, Referenten Sportler, Musiker, Künstler und Kulturschaffende oder Journalisten sind betroffen: Die Verordnung (EG) 883/2004 verbietet seit dem Jahr 2010, eine EU-Innengrenze ohne «A1-Bescheinigung» zu übertreten.
Die Bescheinigungen werden von der Krankenkasse dem Reisenden ausgestellt und sollen sicherstellen, dass im Herkunftsland die Sozialversicherungsbeiträge bezahlt wurden. Wer die Bescheinigung nicht mit sich führt erhält beispielsweise in Deutschland eine Busse von bis zu 4‘000 Euro. Der Arbeitgeber des EU-Reisenden kann zusätzlich mit bis zu 10’000 Euro bestraft werden. Aus anderen Ländern sind Fälle von in Rechnung gestellten angeblich ausstehenden Sozialversicherungsbeiträgen in der Höhe von 200’000 Franken bekannt.
Kontrolleure lesen Gästelisten
Seit dem 1. Januar 2019 werden die Kontrollen plötzlich viel strenger umgesetzt. Die Inspekteure lauern an Grenzübergängen, Flughäfen und Bahnhöfen sowie an Messen und Baustellen. Oder sie lassen sich gar von Hotels die Gästeliste zeigen, um die ausländischen Reisenden zu überprüfen.
Selbst bei sehr kurzen Grenzübertritten, wie einer Tankfahrt, ist das jederzeitige Mitführen der Bescheinigung Pflicht. Jede einzelne Reise benötigt eine Extra-Bescheinigung. Wer in seinen Ferien ein paar Geschäftsmails beantwortet – auch als Schweizer – riskiert damit, in ein Verwaltungsstrafverfahren verwickelt zu werden.
Das Nichtmitführen der Bescheinigung kann zudem zu Problemen mit ausländischen Krankenhäusern und Ärzten führen, weil zum Beispiel die Unfallversicherung eine Kostenübernahme ablehnt. Ohne eine A1-Bescheinigung kann gar der Zutritt zum Firmengelände verweigert werden.
Immense Probleme
Die A1-Bescheinigung stellt nicht nur die kleinen Unternehmen vor immense Probleme. Auch grössere Unternehmen sind beispielsweise nicht in der Lage, schnell auf Anfragen für eine Servicedienstleistung wie die Reparatur einer Maschine rechtzeitig zu reagieren, weil in der Kürze die notwendige A1-Bescheinigung nicht ausgestellt wird.
Nicht-EU-Staaten wie die Schweiz oder künftig Grossbritannien gewinnen durch ihr Abseitsstehen einen grossen Wettbewerbsvorteil, weil sie der bürokratischen Hürde nicht unterstehen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass auch Schweizer und Engländer in der EU eine A1-Bescheinigung benötigen.
Wie einst in der Sowjetunion
Die «Schweizerzeit» war im Gespräch mit zwei Unternehmen, welche Erfahrung mit dieser Bescheinigung haben. Der eine Unternehmer, der in der Schweiz ansässig ist, aber oft in der EU Dienstleistungen erbringt, verdreht die Augen:
«Ich selbst oder meine Angestellten benötigen diese A1-Bescheinigung. Eine unmögliche Sache. Am Anfang mussten wir für jede einzelne Reise dieses Papier besorgen. Nun haben wir es geschafft, dass wir die Bescheinigung für einen länger dauernden Zeitraum erhalten können. Mühsam ist die Angelegenheit dennoch.»
Der andere Unternehmer wohnt in der Schweiz, geschäftet aber hauptsächlich in Deutschland. Er sagt zur «Schweizerzeit»:
«Die Regelung ist an Kleinkrämerei und Bürokratie nicht zu überbieten. Das Formular muss sogar in den Originalfarben ausgedruckt werden, sonst ist es nicht gültig. Das Mitführen dieser Art von Reisepapieren und die Unmöglichkeit, ohne diese straflos ins Ausland reisen zu können, erinnern mich an die sogenannten Bruderstaaten der Sowjetunion. Dort gab es ein ähnliches System.»
BRISANT vom 5. Juli 2019 als PDF-Dokument herunterladen