Sehr geehrter Herr Bundesrat Cassis
Vor Ihrem Amtsantritt haben Sie die Betätigung der Reset-Taste angesichts der Unterwerfungsgelüste Brüssels der Schweiz gegenüber angekündigt. Heute aber verkaufen Sie dem Schweizervolk die der Schweiz zusätzliche Einwanderung bescherende Ausdehnung der Personenfreizügigkeit im neuen Vertrag mit Brüssel; das sei bloss eine unwesentliche Anpassung, die dem Souverän höchstens ein fakultatives Referendum gestatte.
Noch einschneidender: Gerade Sie als Tessiner – also aus einem Kanton stammend, der einer sprachlichen Minderheit jegliche Dominanz durch bevölkerungsmässig stärkere Kantone erspart – rauben allen kleinen Kantonen das Ständemehr, das sie per Verfassung vor dem Überfahren-Werden durch die bevölkerungsreichen Agglomerationen schützt.
Es seien, mussten Sie eingestehen, nicht zuletzt «abstimmungstaktische Überlegungen», welche den Bundesrat zur Entmachtung und Entrechtung selbst der Urkantone veranlassen, denen die Eidgenossenschaft nichts weniger als ihre Entstehung verdankt. Brüssel ist Ihnen und der Bundesratsmehrheit offensichtlich wichtiger als das von der Bundesverfassung garantierte Gleichgewicht zwischen grossen und kleinen Kantonen.
Noch schockierender ist Ihr Rechtfertigungsversuch der Tatsache gegenüber, dass der Bundesrat den ihm von Volk und Ständen bereits am 9. Februar 2014 per Volksabstimmung verbindlich erteilten Auftrag weitgehend missachtet, endlich der unser Land fortgesetzt schädigenden Masseneinwanderung den Riegel zu schieben. Sie flüchten sich in eine sträflich billige Ausrede: Weil der Souverän der Schweiz kein Verfassungsgericht zugestehe, könne der Bundesrat – wenigstens nach Ihrer Meinung – offenbar weitgehend frei entscheiden, ob und wie er Volksentscheide zu vollziehen oder nicht zu vollziehen geruhe.
Vor 25 Jahren, anlässlich der «Nachführung der Bundesverfassung» wurde nach sehr gründlicher Debatte sowohl in der Verfassungskommission als auch in beiden Parlamentskammern die Einrichtung eines Verfassungsgerichts klar abgelehnt. Begründung: Werde unsere Direkte Demokratie, werde die in der Schweiz geltende Volkssouveränität einer höheren juristischen Instanz unterworfen, dann würden Direkte Demokratie und Volkssouveränität aus ihren Angeln gehoben.
Also ist klar: In der Schweiz bildet die Stimmbürgerschaft das Verfassungsgericht. Deren Entscheid ist unanfechtbar.
Sie wollen diesem von Parlament und Volk klar festgelegten Demokratie-Prinzip den Respekt verweigern. Sie verlangen nach einer dem Volk übergeordneten Behörde, die selbst Volksentscheide annullieren könnte.
Mit der Idee solcher Bevormundung der Bürgerinnen und Bürger stehen Sie, Herr Bundesrat, ausserhalb der Verfassung. Diese verlangt auch von Behörden Achtung von Souverän und Direkter Demokratie. Sie, Herr Bundesrat Cassis, scheinen sich dagegen lieber an Brüssels Vorgaben als an der Schweizer Bundesverfassung zu orientieren – dem auch von Ihnen bei Amtsantritt geleisteten Eid auf unsere Verfassung und auf unser Volk zum Trotz.
Solche Absage, solche Distanzierung von der Direkten Demokratie seitens eines Mitglieds der Landesregierung löst Erschütterung aus. Es gibt darauf eigentlich nur eine Antwort:
Sehen Sie, Herr Bundesrat Cassis, nicht ein, dass Ihre Zeit abgelaufen ist?
Schweizerzeit
Anian Liebrand, Verlagsleiter und Chefredaktor
Ulrich Schlüer, Geschäftsführer Schweizerzeit-Stiftung


