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Spitzkehren in steilem Gelände

Eine alte Technik bewährt sich auf Skitouren und beim Rahmenabkommen EU – Schweiz

Zu Beginn des Jahres 1958 traten die Römischen Verträge in Kraft, durch welche die Vorgängerin der EU, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) geschaffen wurde.

 

Zu dieser Zeit gehörte die Spitzkehre in der Schweiz noch zur Grundausbildung des Skifahrens. Heute ist sie auf den flach gewalzten Pisten bedeutungslos. Auf Skitouren ist die Technik aber noch immer unverzichtbar. Wenn der Aufstieg irgendwann so steil wird, dass man eine Richtungsänderung nicht mehr mit einem Bogen machen kann, muss man die Spitzkehre bergwärts beherrschen.

Dass die Spitzkehre auch in der Politik in schwierigem Gelände weiterhin zur unentbehrlichen Technik gehört, haben neulich zwei wohlbekannte Politiker gezeigt: In der Schweiz alt Bundesrat Kaspar Villiger, in Brüssel EU-Chef Jean-Claude Juncker. Und zwar beim sogenannten «Rahmenabkommen» zwischen der EU und der Schweiz. Darin sollen die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU auf eine neue Basis gestellt werden.

 

Von Jean-Claude an Ueli

Zuerst zu EU-Präsident Juncker: In seinem Brief vom 11. Juni dieses Jahres an den schweizerischen Bundespräsidenten und «lieben Ueli» wünschte und rechnete der EU-Präsident mit einer baldigen Unterzeichnung des Rahmenabkommens durch den Bundesrat. Sein ganz persönliches Ziel war die Unterzeichnung dieses Abkommens noch in seiner Amtszeit. Diese endet am kommenden 31. Oktober.

Jean-Claude hat jetzt seine Spitzkehre gemacht. In einem offenen und persönlichen Interview mit der Tiroler Tageszeitung sagte er kürzlich Bemerkenswertes: Die Arbeit als Kommissionspräsident sei keine «vergnügungssteuerpflichtige Freizeitbeschäftigung». Auf die Frage nach seinem grössten Erfolg antwortet er: «Dass ich den Laden zusammengehalten habe.» Und auf die Frage nach dem Scheitern: Er sei an einigem gescheitert. «Es ist uns nicht gelungen, den Rahmenvertrag mit der Schweiz zu verabschieden.» Für Juncker steckt in diesem Scheitern wohl auch eine Fehlleistung der EU, im Gegensatz zum Brexit-Drama, bei dem er keine Fehler bei der EU sieht. Und auf die Frage, ob er seiner Nachfolgerin, der deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, ein wohlbestalltes Haus übergebe, sagt er: «Das Haus ist nicht einsturzgefährdet, aber es reicht oft nicht, nur das Dach zu reparieren. Manchmal muss man es von Grund auf ausbessern.»

 

Kaspar Villiger um den Schlaf gebracht

Einen kürzlichen Gastbeitrag in der NZZ begann alt Bundesrat Kaspar Villiger mit folgendem Satz: «Denk ich an Brüssel in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.» Damit hat Kaspar Villiger im Vergleich zu einem seiner früheren NZZ-Artikel wohl eine perfekte Spitzkehre vollzogen, obschon das für den passionierten Langläufer gar nicht so einfach ist, und obschon sich Villiger im neuesten NZZ-Gastbeitrag nicht ausdrücklich vom Rahmenabkommen distanziert.

Immerhin: Villiger sieht die Schweiz neu als «eine Art Gegenmodell zur EU». Und er konstatiert, dass «manch ein Europäer die Faust im Sack macht und den EU-bedingten Souveränitätsverlust seines Heimatlandes als hegemoniale Fremdbestimmung empfindet.» Diese hegemoniale Fremdbestimmung ist just das Hauptargument der schweizerischen Gegner des Rahmenabkommens, das Villiger in einem Artikel in der NZZ vom 11. Februar dieses Jahres noch als «bestmögliche Lösung» für die Schweiz bezeichnete. Damals befand er, der Rahmenvertrag sichere der Schweiz jene wirtschaftliche Stärke, um sich als Kleinstaat «Souveränität zwischen den grossen Blöcken überhaupt noch leisten zu können.» Das war eine sehr, sehr bescheidene Vorstellung von Souveränität.

Möglicherweise hat jetzt auch dieser frühere Gastbeitrag Kaspar Villiger um den Schlaf gebracht. Möglicherweise hat Villiger im Februar zu sehr auf die Meinung von Economiesuisse-Präsident Heinz Karrer gehört und den Vertragstext nicht genau gelesen. Eines der drei wichtigsten Ziele von Economiesuisse war und ist: «Die Rechtssicherheit wird verbessert». Das tut der Vertrag tatsächlich. Nach Abschluss des Vertrages gälten für die kritischen Bereiche mit Sicherheit immer die EU-Regeln, und nicht mehr die schweizerischen.

Villiger schlägt in seinem neuen Gastbeitrag vier Stossrichtungen vor, welchen die EU in Anlehnung an das «Experiment Schweiz» bei einer zukunftsträchtigen Reform folgen soll: (1) Beschränkung auf zentrale Kernaufgaben mit einem wirksamen Schutz der Vielfalt, (2) Stärkung der Selbstverantwortung auf allen politischen Ebenen, (3) kluge Beschränkung der Personenfreizügigkeit, (4) konsequente wirtschaftliche Öffnung für europäische Drittstaaten. Damit hätten wir Schweizerinnen und Schweizer bestimmt kein Problem. Vielleicht ist dies auch das, was Juncker mit «von Grund auf ausbessern» meint.

 

Der Unterwerfungsvertrag

Nach dem vorliegenden, nicht mehr verhandelbaren Vertrag, den die SVP als «Unterwerfungsvertrag» ablehnt, müsste die Schweiz alle EU-Beschlüsse und EU-Gesetze, welche Brüssel einseitig als «binnenmarktrelevant» deklariert, automatisch übernehmen. Die Schweiz müsste den EU-Gerichtshof als letzte, unanfechtbare Gerichtsinstanz zu Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung bilateraler Verträge zwischen Bern und Brüssel akzeptieren. Weiter würde die Schweiz einem Sanktionsrecht der EU gegen sich selbst zustimmen, wenn die Schweiz einen Entscheid des EU-Gerichtshofs nicht übernehmen könnte oder wollte, zum Beispiel infolge eines Volksentscheides.

Auch wenn Juncker sich geschlagen gibt und Villiger Einsicht zeigt, ist damit das Thema «Rahmenabkommen» politisch noch nicht erledigt. Eine Schlacht ist gewonnen, aber der Krieg wird wohl weiter gehen. Ist nicht der Mann immer noch im Amt, der als Botschafter der EU in Bern kürzlich an die Adresse seines Gastlandes sagte: «Wenn ihr nicht am Tisch sitzt, kommt ihr auf die Speisekarte». Mit Verlaub, Herr Botschafter Matthiessen, die Schweiz ist gegen Kannibalismus.

 

Hans Geiger

 

BRISANT vom 23. August 2019 als PDF-Dokument herunterladen

Publiziert von Hans Geiger

Hans Geiger ist em. Professor für Bankwesen, wohnhaft in Weiningen ZH.

7 Kommentare

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  1. Gratulation, Herr Prof. Geiger,
    Mit feiner Florettklinge präzise auf den Punkt gebracht!

    Weitere Spitzkehren sind dringend erforderlich – auch nach den Wahlen.

  2. Ich bitte die Schweizerzeit, eine Liste mit den amtlichen Post- und E-Mail-Adressen aller Bundesräte, Parteipräsidenten und sonstiger wichtiger Exponenten aus Politik und Wirtschaft zu publizieren mit einer kurzen Darstellung von deren Haltung zum Rahmenabkommen. Dies sollte dann nicht irgendwelche gehässigen Shitstorms provozieren, sondern eine Flut von anständigen, aber unmissverständlichen Meinungsäusserungen besorgter Bürgerinnen und Bürger auslösen.

  3. Na ja mal nix überstürzen.
    Zum Thema J.-C Junker muss man nicht lange diskutieren.
    Weiss doch innzwischen jeder das auftreten dieser
    Spitzenkraft Hmmm. Das sich diese EU so etwas geleistet hat??? Man kann sich auch sooo der Lächerlichkeit preisgeben. So was kann sich zumindest in der Schweiz
    kein ,,Büezer,, leisten.Ein zwei mal mehr geht nicht, dann heisst es Tschüss.Grins NICHT beim Saftladen EU.
    Der Junker erinnert mich immer an den B.Jelzin.
    Die hatten das gleiche Problem, Schluckspecht.
    Der Unterschied der Jelzin war zwischendurch auch nüchtern und hat mit sehr viel Mut das richtige getan.
    Unvergesslich damals auf dem Panzer, Historischer Auftritt,
    Liebe Mitbürger aus mit Schabernack Ende UDSSR
    freiheit für Russland. Und erst vor der Duma dem Gorbi
    die Lefitten gelesen, unterschreiben und aus und Ende
    mit dem Theater.
    Dagegen ist ein Junker, lassen wir das.
    Wünsche schönes Wochenende.

  4. Aber waren es nicht ursprünglich zwei akkredidierte EU-Mannen welche den Anstand zu Hause liessen ? Und wenn ja: wie lange lässt man sich in der Schweiz Zeit um solchen Leuten Hausverbot zu geben ? Wir müssen uns wirklich nicht alle Unflätigkeiten gefallen lassen. Und keine Reaktion kommt für mich wie eine Ehren-Meldung, wie ein ‹Danke, lieber Bruder› an.

  5. Pfeift unser Land wirtschaftlich wirklich aus dem letzten Loch,
    dass wir überhaupt über einen Vetragstext diskutieren,in welchem
    wir ein Sanktionsrecht gegen und selbst gutheissen sollen?

    Der abgegriffene Spruch von den allerdümmsten Kälbern, welkche ihre
    Metzger selbst wählen, erhält als Fazit des Rahmenabkommens wieder
    neue Strahlkraft.

    Danke für Ihre nur allzunötigen Worte!

  6. Ob man etwas als Spitzkehre, als U-turn oder als Kehrtwende bezeichne, wer will denn das, was ‚unsere‘ Politiker produzieren, noch ernst nehmen? Wir leisten uns mit all diesen Wendehälsen und Windfähnchen Kabarett-Spieler, die das Volk zwar unterhalten, während sie ihre eigentlichen Aufgaben, zu denen sie in ihr Amt berufen waren zu „vergnügungssteuerpflichtigen Freizeitveranstaltungen“ verkommen lassen. Es gibt verschiedene Auswege. Lediglich zwei seien hier erwähnt: Entpolitisierung der Politik (Subsidiarität und Eigenständigkeit) oder Volksverblödung (geistig-materielle Abhängigkeit und Versklavung), die den Bürger als Manipuliermasse misbraucht.

  7. Wir Menschen stammen von den Affen ab –
    Das » affige » Getue in der Politik beweist es immer wieder –
    Wir Menschen müssen auch über uns selber lachen können und immer wieder an das Gute in uns glauben !

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